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ZUM VERTRAG VON LISSABON (RUTH HIERONYMI) (01.08.08)

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RUTH HIERONYMI

MITGLIED DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS

 

01.08.2008

Anmerkungen zum EU-Vertrag von Lissabon

 

I. Grundlagen des europäischen Einigungsprozesses aus deutscher Sicht

1. Die Teilnahme Deutschlands am europäischen Einigungsprozess ist Teil der politischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. In der Präambel des Grundgesetzes heißt es: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."

2. Art. 23 Grundgesetz (GG) vom 21.12.1992 erlaubt es dem deutschen Bundesgesetzgeber, „die eigenständige Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen“ an die Europäische Union unter Einhaltung der im Grundgesetz garantierten Grundrechte zu übertragen. Der Artikel 23 GG ist vom Gesetzgeber eigens für die europäische Integration geschaffen worden.

3. Die Übertragung nationaler Zuständigkeiten auf die europäische Ebene muss einstimmig von allen Regierungen beschlossen und von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Es ist also nur mit Zustimmung der deutschen Politik, d.h. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, möglich, eine Aufgabe in die Zuständigkeit der EU zu übertragen. Dieses "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung" (alle Zuständigkeiten müssen einzeln übertragen und im EU-Vertrag festgeschrieben sein) ist im Vertrag von Lissabon (Art. 5 Abs. 1) ausdrücklich bestätigt.

4. Das Bundesverfassungsgericht hat 1993 in seinem Urteil zum Vertrag von Maastricht (1991) - BVerfGE 89, 155 - entschieden, dass eine Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Gemeinschaft und eine Übertragung von Kompetenzen grundsätzlich möglich ist, da eine „demokratische Legitimation durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten“ und „die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament“ gegeben ist.

Die Übertragung von Kompetenzen ist also vom Bundesverfassungsgericht bereits 1993 gebilligt worden. Dabei werden die Rechte des deutschen Bundestages und des Europäischen Parlamentes durch den Vertrag von Lissabon sogar noch gestärkt.

5. Alle die EU-Gesetze, die von der nationalen Politik beklagt wurden, sind zuvor mit deutscher Beteiligung in Brüssel vorbereitet und beschlossen worden. Wenn in der EU ein Gesetz verabschiedet würde, das gegen das Grundgesetz oder die freie demokratische Grundordnung verstoßen würde, wäre dies von der deutschen Bundesregierung mitbeschlossen worden!

„(...) Einige der in Berlin vergossenen Tränen über angebliche Kompetenzanmaßungen Brüssels sind daher nichts anderes als Krokodilstränen gewesen, da die inkriminierten Beschlüsse zuvor mit deutscher Beteiligung getroffen worden waren. Der Schwarze Peter ist in diesen Angelegenheiten vielfach zu Unrecht nach Brüssel geschoben worden, in Wahrheit gehörte er nach Berlin.(...)“

Quelle: Vortrag vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier ”Europas neue Nüchternheit: Der Vertrag von Lissabon“ an der Humboldt-Universität zu Berlin am 21. Februar 2008

6. Der Vorrang des EU-Rechts bei einer Kollision von einzelnen europäischen und nationalen Rechtsakten ist schon lange durch EuGH und BVerfG anerkannte Praxis. Allerdings ist diese Regelung nach Art. 23 GG an die Einhaltung der im deutschen Grundgesetz garantierten Grundrechte gebunden. Die Überprüfung bleibt in der Zuständigkeit des deutschen Bundesverfassungsgerichtes.

„Lediglich vor der ausdrücklichen Niederschrift des -nur konsequenten! einheitlichen Vorrangs des Unionsrechts ist man aus Angst vor nationalen Befindlichkeiten noch zurückgeschreckt, in der Sache wurde der Vorrang durch eine dem Vertragswerk beigefügte Erklärung jedoch bekräftigt.“ (Quelle: Vortrag vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dres. h. c. Hans-Jürgen Papier ”Europas neue Nüchternheit: Der Vertrag von Lissabon“ an der Humboldt-Universität zu Berlin am 21. Februar 2008)

7. Die Außen- und Sicherheitspolitik wird auch nach dem Vertrag von Lissabon weiterhin dem Prinzip der Einstimmigkeit im Ministerrat unterliegen, d.h. nur mit Zustimmung aller demokratisch legitimierten Regierungen der Nationalstaaten. Der mögliche Einsatz der Bundeswehr unterliegt nicht dem Gemeinschaftsrecht, sondern muss weiterhin vom Bundestag beschlossen werden.

 

II. Die wichtigsten Änderungen des geltenden EU-Vertrages, die durch den Vertrag von Lissabon erreicht werden.

Das Ziel des Vertrages von Lissabon ist es, die EU verständlicher, demokratischer und effizienter zu machen.

1. Der Ministerrat muss als Gesetzgeber zukünftig in öffentlicher Sitzung tagen. Die große Verantwortung der nationalen Regierungen für die europäischen Gesetze wird endlich sichtbar!

2. Der Präsident des Europäischen Rates wird nicht mehr halbjährlich zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten wechseln, sondern er wird für zweieinhalb Jahre von den Regierungen gewählt, um die Arbeit des Rates gemeinsam mit zwei Stellvertretern zu koordinieren.

3. Es wird in 40 Bereichen, die bisher vom Ministerrat nur einstimmig entschieden werden konnten, zukünftig mit einer qualifizierten Mehrheit (55% der Mitgliedstaaten, die gleichzeitig 65% der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen) entschieden.

4. Die nationalen Parlamente können innerhalb von acht Wochen Einspruch gegen EU-Gesetzentwürfe einlegen, wenn sie ihre Kompetenz und das Prinzip der Subsidiarität verletzt sehen.

5. Das Europäische Parlament wird in Zukunft bei fast allen Fragen (95%, bisher 75%), die auf europäischer Ebene entschieden werden, gleichberechtigter Gesetzgeber mit dem Ministerrat sein.

6. Durch ein europäisches Bürgerbegehren können die Bürgerinnen und Bürger mit mindestens 1 Million Unterschriften ein Thema auf die Tagesordnung von Kommission, Rat und Parlament bringen.

7. Der Kommissionspräsident wird entsprechend der politischen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl vom Europäischen Parlament gewählt.

8. Die Zusammenarbeit zum Schutz der EU-Außengrenzen wird verbessert und eine gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitik der Mitgliedstaaten angestrebt.  

9. Eine europäische Energie- und Klimapolitik wird ermöglicht. Die Sicherheit der Energieversorgung wird zur europäischen Aufgabe erklärt.

10. Die EU-Grundrechtecharta, die die Grundrechte wie das deutsche Grundgesetz enthält, wird durch einen Verweis im Vertrag von Lissabon für alle EU-Staaten (außer Großbritannien und Polen) verbindlich werden.

Bis Juli 2008 hatten 23 der 27 Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert. Offen sind noch Schweden, Polen und Tschechien. Nach der Ablehnung des Vertrages durch die Volksabstimmung in Irland werden die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel am 15. Oktober 2008 gemeinsam mit der irischen Regierung mögliche Lösungen beraten.

 

III. Wird die nationale Souveränität durch den Vertrag von Lissabon aufgegeben oder unangemessen geschwächt?

Nein, denn:

1. Ohne die Zustimmung der deutschen Bundesregierung als Vertreter des größten EU-Mitgliedslandes wird jetzt und in Zukunft keine Aufgabe auf die europäische Ebene übertragen.

2. Ohne die Zustimmung der deutschen Bundesregierung im Ministerrat und der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament kommt keine Entscheidung über die Art einer gemeinsamen europäischen Regelung zustande.

3. Mit dem Vertrag von Lissabon wird deutlich, dass die Mitgliedstaaten der EU sowohl die nationale als auch die gemeinsame europäische Ebene gleichermaßen für die Zukunft stärken wollen.

4. In Fragen der Einhaltung der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes liegt die endgültige Überprüfung beim deutschen Bundesverfassungsgericht.  

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