Volltextsuche:

EUROPAS TAGESORDNUNG DER ZUKUNFT (05.06.08)

Den Artikel zum Ausdrucken finden Sie hier.

 

Die europäische Tagesordnung der Zukunft

Auf dem Stimmzettel des irischen Referendums vom 12. Juni 2008 findet sich weder das Wort „Europa“ noch der Begriff „Lissaboner Vertrag.“ Die in gällisch und englisch gestellte Frage lautete: „Sind Sie einverstanden mit dem Vorschlag, die Verfassung um den im unten genannten Gesetz genannten Zusatz zu erweitern (28. Verfassungsänderungsgesetz 2008) ?“ Auf diese Frage antworteten 862.415 (53,4 %) der rund 3 Millionen stimmberechtigten Iren mit NEIN und 752.451 (46,6 %) mit JA. Wer wollte, konnte im Wahllokal das 28. Verfassungsänderungsgesetz einsehen: Ein 18seitiges rechtstechnisches, unverständliches Dokument.

Wie hätten die Iren wohl entschieden, wenn ihnen auf dem Stimmzettel nicht die Fragen vorenthalten worden wären, vor denen Europa steht. Diese Fragen liegen klar auf der Hand:

 

  • Warum soll es mit der europäischen Integration weitergehen ?

  • Wie kann Europa demokratischer werden ?

  • Wo liegen die Grenzen der EU-Erweiterung ?

 

Diese Zukunftsfragen stellen sich vor allem jungen Menschen, die in Irland überdurchschnittlich häufig mit „Nein“ gestimmt haben.

I.

Die Motivation der Gründergeneration „Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur!“ hat zur Gründung der Europäischen Union geführt und begründet ihren ersten Erfolg. Frieden und Freiheit für ganz Europa ist als zweites großes Ziel ebenfalls verwirklicht. Reichen diese Erfolge, die heute vielen als selbstverständlich gelten, nicht aus? Wozu brauchen wir überhaupt weitere Fortschritte in der europäischen Integration?

Uns Europäern muss im Zeitalter der Globalisierung klarer werden, dass wir nur ein kleiner Teil dieser Welt sind. Heute leben nur etwa 7,5 Prozent der Weltbevölkerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. 2050 werden wegen des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums nur rund 4 Prozent der Menschheit Europäer sein.

Wir haben als kleine Minderheit in der Weltgesellschaft nur dann eine Chance, unsere Werte, unsere politische Kultur, unsere Lebensweise und unseren Wohlstand zu bewahren, wenn wir noch mehr zusammenrücken und noch enger zusammenarbeiten.

 

Nach der Selbstfindung der Europäer durch die Verankerung von Frieden und Freiheit auf dem eigenen Kontinent ist die Selbstbehauptung Europas in der zusammenwachsenden Welt die neue Notwendigkeit und zusätzliche Legitimation der europäischen Einigungsbewegung.

II.

Weil Europa noch enger zusammenrücken muß, ist eine Demokratiereform für die europäischen Institutionen notwendig. Für den status quo der Integration mögen die gegenwärtigen Verfahren ausreichen, für die Einigungsnotwendigkeiten der Zukunft nicht. Es geht um mehr Handlungsfähigkeit und bessere demokratische Kontrolle.

Auf diesem Weg ist der Lissaboner Vertrag ein unverzichtbares Instrument. Er dezentralisiert und verlagert Aufgaben von Brüssel in die Mitgliedstaaten und Regionen. Zugleich stärkt der Vertrag die europäische Ebene, wo es für die Selbstbehauptung Europas wichtig ist: Vor allem bei der inneren und äußeren Sicherheit. So wird das Subsidiaritätsprinzip umgesetzt: Dezentralisierung der Aufgabenverteilung und Stärkung der zuständige Ebene bei gleichzeitiger besserer demokratischer Kontrolle. Vor allem erhält das direkt gewählte Europaparlament mehr Macht.

 

Zugleich wird die Handlungsfähigkeit der EU entscheidend durch das Prinzip der doppelten Mehrheit gestärkt: Nur bei Zustimmung von zwei Dritteln der Mitgliedsstaaten und der Bevölkerung werden Ratsentscheidungen verbindlich. Dort, wo dieses Prinzip gilt, entfällt das blockierende Vetorecht.

Das Mehrheitsprinzip lebt von der Erfahrung und Erwartung, wechselweise zur Mehrheit oder Minderheit zu gehören. Wen stört, dass er zu oft unterliegt, muss nicht dabei bleiben. Der Lissaboner Vertrag eröffnet den Weg, die Europäische Union zu verlassen und die Mitgliedschaft aufzugeben.

III.

Die Strategie der EU-Erweiterungspolitik muss auf den Prüfstand und wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Nicht die EU muss ständig um neue Mitglieder werben, sondern aufgenommen zu werden, sollte eine Auszeichnung sein.

Die sog. „Kopenhagener Kriterien“ legen fest: „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können “

Es war falsch, Beitrittsverhandlungen mit Ländern aufzunehmen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen. So sind diese Beitrittsverhandlungen zu einem pädagogischen Instrument geworden, zu einer Art permanenter Nachhilfestunde:

Notwendige Reformen werden oft nicht aus eigener Einsicht und um ihrer selbst Willen durchgeführt, sondern damit der Beitrittsprozess weitergeht. So entfalten sie keine nachhaltige Wirkung und der Mitgliedschaft fehlt später die stabile Grundlage. Das gilt für die übereilte Aufnahme von Rumänien und Bulgarien ebenso wie für die Beitrittsverhandlungen z. B. mit der Türkei oder verfrühte Beitrittsofferten an Serbien.

Das Stichwort Türkei führt schließlich zur größten Unehrlichkeit der aktuellen Erweiterungspolitik:. In Artikel 49 EU-Vertrag heißt es: „Jeder europäische Staat, der die in Artikel 6 Absatz 1 genannten Grundsätze achtet, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden.“ Es geht dabei in Artikel 6 um die „Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit."

Aber es kann eben nicht jeder Staat, der diese Grundsätze erfüllt, Mitglied der EU werden, sondern nur „jeder europäische Staat“. Die geographische Kompenete ist also ein Beitrittskriterium und muss endlich enttabuisiert werden. Die Türkei hat nach diesem Mitgliedskriterium ebensowenig einen Mitgliedsanspruch wie z. B. Russland in seiner heutigen Größe. Das ist keine Diskriminierung, sondern erhöht nur die Bedeutung der europäischen Nachbarschaftspolitik (“priviligierte Partnerschaft”).

* * *

Europäische Selbstbehauptung als Integrationsziel, Demokratiereform zur Steigerung der europäischer Handlungsfähigkeit und klare Erweiterungsgrenzen — das ist die europäische Tagesordnung der Zukunft. In diesem Sinn braucht die Europäische Union mehr Klarheit und Selbstbewusstsein und darüber müssen wir alle als Bürger Europas entscheiden.