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WOFÜR DIE CDU STEHT,

16. August 2016
ist vor jeder Wahl eine berechtigte Frage. Dabei geht weniger um tagesaktelle Programme, sondern um die politischen Grundsätze der Partei: Wie politikfähig ist das "C" eigentlich ?
WOFÜR DIE CDU STEHT,

 

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Stephan Eisel

Zur Politikfähigkeit des „C“

Zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gehört untrennbar die Debatte um das „C“ in der Politik. Es bewegte und bewegt die Gemüter als Stein des Anstoßes oder Chance, als Orientierungspunkt oder Herausforderung. Für die Gründergeneration der neuen Republik war nach der Katastrophe des Nationalsozialismus das Fundament klarer Grundwerte selbstverständlich. Schon am 26. Juni 1945 veröffentlichten Überlebende der NS-Diktatur den Gründungsaufruf für eine neue Partei mit dem Namen „Christlich-demokratische Union Deutschlands“. Im Angesicht einer „furchtbaren Erbschaft, vor einem Trümmerhaufen sittlicher und materieller Werte“ schien es nur sechs Wochen nach dem Ende von Krieg und Diktatur naheliegend, „die christlichen, demokratischen und sozialen Kräfte zur Sammlung, zur Mitarbeit und zum Aufbau einer neuen Heimat“ aufzurufen.

Den programmatischen Kern der neuen Partei formulierte Konrad Adenauer in seiner berühmten Kölner Universitätsrede am 24. März 1946 so:

Der Fundamentalsatz des Programms der CDU, der Satz, von dem alle Forderungen unseres Programms ausgehen, ist ein Kerngedanke der christlichen Ethik: die menschliche Person hat eine einzigartige Würde, und der Wert jedes einzelnen Menschen ist unersetzlich. Aus diesem Satz ergibt sich eine Staats-, Wirtschafts- und Kulturauffassung, die neu ist gegenüber der in Deutschland seit langem üblichen. Nach dieser Auffassung ist weder der Staat, noch die Wirtschaft, noch die Kultur Selbstzweck; sie haben eine dienende Funktion gegenüber der Person. Die materialistische Weltanschauung macht den Menschen unpersönlich, zu einem kleinen Maschinenteil in einer ungeheuren Maschine, sie lehnen wir mit der größten Entschiedenheit ab. ... Wir nennen uns christliche Demokraten, weil wir der tiefen Überzeugung sind, daß nur eine Demokratie, die in der christlich-abendländischen Weltanschauung, in dem christlichen Naturrecht, in den Grundsätzen der christlichen Ethik wurzelt, die große erzieherische Aufgabe am deutschen Volke erfüllen und seinen Wiederaufstieg herbeiführen kann.“

Zwar schien das „C“ in der Politik mit der Gründung der „C“-Parteien einen festen Ort gefunden zu haben, aber vielleicht auch deswegen wurde es bald zum Berufungspunkt für völlig kontroverse Meinungen in grundlegenden Debatten um die Soziale Marktwirtschaft und die Wiederbewaffnung über die Ostpolitik bis zur Nachrüstung.

Wie provokativ die politische Berufung auf das „C“ ist, belegen nicht zuletzt die immer wiederkehrenden, ritualisierten Forderungen, die Unionsparteien mögen doch darauf verzichten, weil es ihnen entweder nicht zustünde oder in einer immer mehr säkularisierten Gesellschaft sowieso eher ein Hemmschuh sei. Dabei gehört zu den Merkwürdigkeiten der Debatte die Neigung vieler Unionspolitiker, sich lieber mit der Frage: „Was ist konservativ?“ zu beschäftigten als damit, worin der „christlich-demokratische“ Anspruch besteht, den CDU und CSU mit ihrem Partei namen selbstbewußt erheben. Die Politikfähigkeit des „C“ kann sich nicht entfalten, wenn nicht immer wieder nachgedacht und gestritten wird, wofür dieses „C“ eigentlich steht.

Der Gestaltungsanspruch des „C“

Grundlage und Voraussetzung einer Politik aus christlicher Verantwortung ist das Bekenntnis zum christlichen Menschenbild, das den Menschen ausdrücklich als Geschöpf Gottes sieht und sich deshalb zu seiner Einmaligkeit und Begrenztheit bekennt. Es ist kein Zufall, daß schon im ersten Satz des CDU-Grundsatzprogramms von Gott die Rede ist und es wenig später heißt: „Unsere Politik beruht auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott.“ Ein dutzendmal wird im CDU-Programm auf Gott Bezug genommen, die Programme anderer Parteien finden ihn keiner Erwähnung wert.

Im Verständnis des christlichen Menschenbildes zeichnen unveräußerliche Würde, Gleichwertigkeit, Verschiedenartigkeit und Unvollkommenheit alle Menschen aus. Daraus leiten sich die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität ab. Wegen dieses ausdrücklichen Bezugs auf die christliche Ethik wollen die Bürger gerade von einer „C“-Partei wissen, warum bestimmte politische Vorschläge gemacht werden und welches Werteverständnis dahinter steht. Sie fragen nach der „C“-Fähigkeit der Politik und der Politikfähigkeit des „C“. Für die C-Parteien ist deswegen die Antwort auf das Warum, also die Begründung ihrer Politik mindestens ebenso wichtig wie die Erklärung des Wie, also der Umsetzung.

Wenn sich eine Partei im Kern ausdrücklich nicht auf die Beliebigkeit der Zeitläufte, sondern auf die zeitlose Gültigkeit ihrer Grundsätze beruft, muß sie den politischen Gestaltungswillen, der ihren Entscheidungen zugrunde liegt, besonders klar beschreiben. Wer dem Zeitgeist nachläuft und ihn nicht zu formen sucht, geht in den Tsunamis einer sich ständig beschleunigenden und oft irrational dramatisierenden Mediengesellschaft unter. Dem Volk aufs Maul schauen, heißt eben nicht, ihm nach dem Munde reden: Zuhören ist die Voraussetzung und nicht der Ersatz für politische Führung. Beharrlichkeit ist in der Politik noch wichtiger als Anpassungsfähigkeit.

Wer sich das „C“ als Maßstab nimmt, muß Gegenwind aushalten können. Er darf sich nicht an den Launen des Zeitgeistes orientieren. Es ist quasi der Kompaß für eine Agenda der Beharrlichkeit und der Nachhaltigkeit. Es erinnert daran, daß den Weg nicht findet, wer das Ziel nicht kennt. Gerade für die „C“-Parteien lautet deshalb die entscheidende Frage nicht: „Was ist konservativ ?“oder: „Was ist liberal?“, sondern: „Was ist christlich-demokratisch?“ Die Antwort läßt sich nicht in jeder politischen Einzelfrage, wohl aber in zentralen Politikfeldern geben.

In dubio pro vita

Ganz unmittelbar mit dem christlichen Menschenbild hängt die politische Behandlung aller Fragen zusammen, die mit dem Beginn und Ende des Lebens zu tun haben. Das „C“ ist ein Manifest gegen die Relativierung des Schutzes der Menschenwürde, je nach vor- oder nachgeburtlichem Lebensalter. Es fordert den klaren politischen Willen, den Menschen als Geschöpf Gottes menschlicher Verfügbarkeit zu entziehen. Das gilt für Embryonenschutz, Fortpflanzungsmedizin und Schwangerschaftsabbruch ebenso wie für Sterbebegleitung.

Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik (PND und PID) oder Fruchtwasseruntersuchungen dürfen nicht zur Selektion wahrscheinlich behinderter Kinder mißbraucht werden. Künstlicher Befruchtung müssen Grenzen gesetzt werden, wo Erwachsenenegoismus das Kindeswohl ignoriert – zum Beispiel durch künstliche Befruchtung im fortgeschrittenen Alter. Es darf weder ein staatlich garantiertes Recht auf ein Kind um jeden Preis noch eine Staatsgarantie für eine bestimmte Art des Todes geben. Leben zu geben und zu nehmen muß im christlichen Verständnis dem menschlichen Zugriff entzogen bleiben.

Der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt hat das Wissen um den Zeitpunkt des Beginns individuellen menschlichen Lebens in den letzten Jahrzehnten immer weiter nach vorne verschoben. Für Laien war wohl der im wörtlichen Sinne augenfälligste Einschnitt die Ultraschalluntersuchung, die vorgeburtliches Leben und seine Schutzbedürftigkeit jedem sichtbar gemacht hat. Daß sich Mediziner und Biologen im Blick auf die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle über den Beginn individuell menschlichen Lebens meist uneinig sind, ist irritierend. Das „C“ fordert jedoch, daß im Fall solcher Uneinigkeit Lebensbeginn und damit Lebensschutz eher früher als später angesetzt werden: in dubio pro vita.

Konjunktur für Subsidiarität

Die Person steht auch im Zentrum der Subsidiaritätsidee, die so eng mit dem „C“ verbunden ist. Sie begreift Eigenverantwortung und Solidarität als zwei Seiten der gleichen Medaille. Von vielen werden diese Begriffe in Widerspruch zueinander gesetzt: Eigenverantwortung wird oft als „neoliberal“ diffamiert, Solidarität ist für manchen „links“. Diese Polarisierung ist unsinnig, denn in Wahrheit gilt: Je mehr der einzelne für sich selbst sorgt, um so mehr können er und die staatliche Gemeinschaft für wirklich Bedürftige tun. Je mehr Sozialpolitik „Hilfe zur Selbsthilfe“ zum Ziel hat, um so wirksamer ist der Solidaritätsgedanke, der ja nicht dauerhafte Abhängigkeit, sondern die Befähigung zur Eigenverantwortung anstrebt.

Die Wurzeln des Subsidiaritätsprinzips reichen weit zurück. Sie gründen im Leitbild der Vielfalt für den Aufbau einer Gesellschaft, wie es schon Aristoteles fordert – ganz im Gegensatz zu seinem Lehrer Platon, der das Einheitsideal als Strukturprinzip einer Gesellschaft empfahl. Der Streit zwischen beiden Gesellschaftskonzepten durchzieht die politische Ideengeschichte. Anwälte der Vielfalt waren Denker wie John Locke, Immanuel Kant oder Ernst Fraenkel. Das Einheitsideal wurde zum Beispiel von Jean Jacques Rousseau, Karl Marx und Carl Schmitt vertreten.

Wer dem Staat und der Gesellschaft die Aufgabe zuschreibt, Vielfalt zu ermöglichen, stellt zugleich auch die Frage nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Glieder und Ebenen einer Gesellschaft zueinander. Johannes Althusius zum Beispiel – als Bürgermeister von Emden nicht nur theoretisch bewandert – verstand die Gesellschaft als Gemeinschaft verschiedener Gruppen mit eigenen Aufgaben, die gelegentlich der Unterstützung übergeordneter Gruppen bedürften.

Sechs Jahre bevor er zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde, definierte Abraham Lincoln 1854 schon fast klassisch:

The legitimate objects of governments is to do for a community of people whatever they need to have done but cannot do at all, or cannot so well do for themselves in their separate and individual capacities. In all that the people can do as well for themselves, government ought not to interfair.“

Ganz ähnlich formuliert die päpstlichen Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“ vom 15. Mai 1931:

Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.“

Diese Enzyklika bezog sich zu deren 40. Jahrestag auf die Enzyklika „Rerum Novarum“ aus dem Jahr 1891. Darin hatte sich Papst Leo XIII. damit befaßt, wie der einzelne gegen Vermassung und Anonymisierung als Folge der Industrialisierung geschützt werden kann. In „Quadragesimo Anno“ ging es Papst Pius XI. angesichts totalitärer Ideologien darum, den einzelnen, die Familie und kleine Gemeinschaften zu schützen und die Macht des Staates auf deren Unterstützung („subsidium“) zu beschränken.

Das Subsidiaritätsprinzip hat also einen inhaltlichen Doppelkern: „Privat vor Staat“ und „Klein vor Groß“. Wo ein Problem auftaucht, soll die jeweils kleinste Einheit die erste Chance zur Lösung bekommen: Zuerst der einzelne, die Familie, die Nachbarschaft (privat); und erst dann die staatliche Ebene: Kommune, Land, Bund, Europa. In der politischen Praxis ist das Subsidiaritätsprinzip also eine Kompetenzverteilungsregel und begründet im staatlichen Handeln das Zuständigkeitsprinzip. Keineswegs kann man ihm unterstellen, der Staat solle sich um nichts kümmern und alles der Gesellschaft überlassen.

In diesem Sinn ist Subsidiarität die Schwester der Solidarität – oder um an die „Baugesetze der Gesellschaft“ von Oswald von Nell-Breuning SJ in seinen Erläuterungen zum Subsidiaritätsprinzip anzuknüpfen: Die Grundeinsichten „Die Kirche im Dorf lassen“ und „Wir sitzen alle in einem Boot“ gehören zusammen. In der Rangfolge Selbsthilfe – Nachbarschaftshilfe – Staatshilfe steht, wie vom christlichen Menschenbild gefordert, der einzelne im Mittelpunkt und nicht die Struktur. Je besser dieser ordnungspolitische Maßstab erkennbar ist, um so deutlicher sichtbar ist die politische Realität des „C“.

Integrationskraft der Sozialen Marktwirtschaft

Die Achtung vor der personalen Integrität durch Abwehr von Abhängigkeiten und Bevormundung des einzelnen fordert das „C“ nicht nur von der staatlichen Ordnung, sondern auch im Wirtschaftsleben. Dieser Herausforderung stellt sich das Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft mit seinem Anspruch, die Freiheit des Marktes zuzulassen, ihm aber auch Schranken zu setzen. Soziale Marktwirtschaft ist eine Wirtschaftsordnung für alle, nicht nur für einige. Sie ist dabei nicht nur dem wirtschaftspolitischen Ziel „Wohlstand für alle“, sondern auch der sozialpolitischen Aufgabe der Integration aller in die Gemeinschaft verpflichtet.

Dazu gehört die Überwindung der Ideologie der Nivellierung, die die Gleichwertigkeit der Menschen mit der Gleichheit aller verwechselt. Das christliche Menschenbild entzieht sich einem solchen Gleichheitsanspruch und betont die Verschiedenartigkeit der Menschen. In ihrer Programmatik haben die „C“-Parteien deshalb zu Recht den Begriff „Chancengleichheit“ durch den Begriff „Chancengerechtigkeit“ ersetzt.

Die ausgrenzende Zerstörungskraft der Gleichheitsideologie hat sich zuerst mit der Umdeutung des Begriffs „Elite“ zum Kampfbegriff einer Klassenideologie gegen die Leistungsträger der Gesellschaft gerichtet. In der Norm des Mittelmaßes stört das Herausragende. In Abgrenzung dazu gibt die Leitlinie „Leistung muß sich wieder lohnen“ Begabten und Leistungsstarken die ihnen zustehenden Entfaltungschancen. Sie haben nicht nur im Respekt vor ihrer Individualität Anspruch auf politische Unterstützung, sondern sie brauchen auch im allgemeinen Interesse gute Chancen für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit, damit sie nicht emigrieren oder innerlich resignieren, sondern mit ihrer Leistungskraft auch einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten.

Aus dem Blick geraten in einer Gesellschaft, die dem Mittelmaß verpflichtet ist, aber auch jene Menschen, die mit der sich beschleunigenden Modernisierung in Wirtschaft und Technik nicht mithalten können, obwohl sie dies wollen. Die Gleichheitsideologie glaubt in ihrer materialistischen Grundausrichtung, die Bedürfnisse dieser Menschen einfach durch staatliche Transferleistungen befriedigen zu können. Aber es geht um mehr als um materielle Bedürfnisse, wenn Menschen aus der Arbeitswelt und auch zu einem großen Teil aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen sind. Wer früher im Betrieb „den Hof gefegt“ hat und damit in den Alltag integriert war, ist heute oft Hartz IV-Empfänger ohne geregelten Lebensalltag und erlebt schnell gesellschaftliche Ausgrenzung statt Integration.

Der Mensch lebt aber nicht vom Brot allein, und das christliche Menschenbild billigt auch jedem das gleiche Recht zu, sich als nützlich für die Gemeinschaft zu empfinden und gebraucht zu werden. Dem widerspricht es, einfache Tätigkeiten mit ihrer Chance zur Integration in die Gesellschaft zu diskreditieren und von oben herab verächtlich zu machen. Die Soziale Marktwirtschaft bewährt sich am Maßstab des „C“, wenn sie sowohl dem Leistungsstarken Freiraum für die Entfaltung seiner Talente als auch dem Leistungsschwachen die Chance zur Mitwirkung eröffnet.

Jenseits von Angebot und Nachfrage

So sehr das „C“ zum Schutz der Menschenwürde auch wirtschaftliche und soziale Sicherheit fordert, so sehr steht das christliche Menschenbild zugleich gegen eine Politik der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Den Menschen auf das Materielle zu reduzieren, wird ihm nicht gerecht. So hat das Thema „Gesundheit“ viele Dimensionen, die mit einer ökonomischen „Prämien“-Begrifflichkeit nicht zureichend erfaßt werden. Auch Umweltschutz hat zwar ökonomische Voraussetzungen und Auswirkungen, aber Umwelt hat eben auch einen wirtschaftlich nicht faßbaren Eigenwert, weswegen in der Programmatik der „C“-Parteien gerne auf den biblischen Begriff der „Schöpfung“ zurückgegriffen wird. Es paßt auch nicht zum christlichen Menschenbild, die kulturelle Dimension der persönlichen Entfaltung zu vernachlässigen.

Ebenso falsch wäre es, notwendige familienpolitische Maßnahmen zuerst mit dem ökonomischen Argument zu begründen, eine demographische Trendwende einleiten zu wollen, die wiederum die wirtschaftliche Lage verbessere. Diese Ökonomisierung der Familienpolitik vernachlässigt die zentrale Aufgabe der Familie als Hort des Privaten, der Geborgenheit und der Wertevermittlung. Kinder werden nicht gezeugt, um den demographischen Wandel einer Gesellschaft zu befördern, sondern sind Teil einer höchst privaten und persönlichen Entscheidung der Eltern. Politik muß durch ökonomische Entscheidungen diese private Entscheidungsfreiheit ermöglichen, darf sie aber nicht ökonomisch instrumentalisieren. Das gilt auch für die persönliche und familiäre Entscheidung über den eigenen Lebensentwurf zwischen Familie und Beruf.

Teilweise wird auch in den „C“-Parteien ganz offen als Motiv für die staatliche Bevorzugung eines bestimmten Familienmodells die Notwendigkeit einer Erhöhung der Frauenerwerbsquote genannt. So wird aus Familienpolitik Wirtschaftspolitik und die Wahlfreiheit durch staatliche Lenkungsmaßnahmen ausgehebelt. Es widerspricht dem Respekt des christlichen Menschenbildes vor dem unersetzlichen Wert jedes einzelnen und seiner Freiheit, wenn Menschen deswegen einem politischen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt werden, weil sie sich nicht für einen bestimmten familiären Lebensentwurf entscheiden. Weder das Gerede von der berufstätigen „Rabenmutter“, noch das vom „Heimchen am Herd“ ist mit dem „C“ vereinbar.

Im Bereich der Familienpolitik ist das christliche Menschenbild deshalb so virulent, weil es dem Staat nicht gestattet, private Entscheidungen zu verstaatlichen, sondern ihn im Gegenteil zum Schutz dieser Privatsphäre verpflichtet. Dem widerspricht es, wenn der Staat zwar staatliche Krippenplätze verstärkt ausbaut, aber private Kinderbetreuung in der Familie nicht unterstützt und den Eltern ein schlechtes Gewissen einredet, die sich für die familiäre Kinderbetreuung entscheiden. Tatsächliche Wahlfreiheit fördert der Staat nur dort, wo er unterschiedliche elterliche Entscheidungen nicht nur gleichermaßen respektiert, sondern auch gleichermaßen fördert. Deshalb geht es in der Debatte um ein familienbezogenes „Betreuungsgeld“ durchaus um eine Grundsatzfrage.

Gleichwertigkeit im Unterschied

Auch die Mode, die Qualität unseres Bildungssystems an der Zahl der Abiturienten oder Studenten zu messen, ignoriert die vom christlichen Menschenbild betonte Verschiedenartigkeit der Menschen und Begabungen. Sie ist akademikerfixiert und stilisiert das Studium als fast einzigen Weg zu einem glücklichen Leben. Inzwischen liegt der Anteil der Studienanfänger in Deutschland bei 43 Prozent eines Jahrganges (!), die OECD schwärmt gar von einer 90-Prozent-Zielmarke. Gleichzeitig wird die handwerkliche Ausbildung in einem problematischen Ausmaß verakademisiert und damit die Praxis von der Theorie verdrängt.

Verräterisch ist schon das Wort von der „höheren“ Bildung, die doch in Wahrheit nur eine längere und theoretischere Bildung ist. Der Fixierung auf akademische Bildung liegt ein Menschenbild zugrunde, das die Gleichwertigkeit der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit negiert. Handwerkliche Begabung und Bildung sind aber im Blick auf die Wertigkeit des einzelnen und für unsere Gesellschaft insgesamt ebenso wichtig wie akademische Bildung. Menschen mit solchen praktischen Begabungen werden dennoch heute schnell als „bildungsfern“ an den Rand gedrängt.

Tatsächlich sind Akademiker in vielen Fragen des Lebensalltags Analphabeten: Kaum einer von ihnen kann ein Schwein schlachten, einen Bus im öffentlichen Nahverkehr steuern oder einen Wasserrohrbruch reparieren. Die Menschen wissen auch sehr genau, dass Klugheit und Lebenstauglichkeit keine Frage des akademischen Ranges ist. Es ist die Stärke eines gegliederten Bildungswesens, mit unterschiedlichen Angeboten verschiedene Begabungen zu fördern, ohne sie in eine wertende Rangfolge zu bringen.

Wehrhafte Demokratie

Zu einer Gesellschaft mit menschlichem Gesicht gehört auch das klare Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie als der politischen Ordnung, die das christliche Menschenbild am besten zur Entfaltung kommen läßt. Bei jener Generation, die diktatorische Systeme und ihre totalitären Eingriffe in das Leben des einzelnen erfahren hat, mußte für diese Erkenntnis nicht in Seminaren geworben werden. Wem die Freiheit genommen war, der weiß, daß sie nicht selbstverständlich ist. Wem freie Wahlen verweigert wurden, der weiß, was Wahlrecht bedeutet. Wer hilflos dem Faustrecht des Stärkeren ausgesetzt war, für den sind Schutz der Menschenwürde und Minderheitenschutz keine abstrakten Themen.

Inzwischen wachsen aber Generationen heran, die das Fehlen von Demokratie und Freiheit glücklicherweise nur noch aus historischen Rückblicken kennen. Sie erfahren die freiheitliche Demokratie täglich als Selbstverständlichkeit. Deswegen wird auch zunehmend weniger über ihre Grundlagen und Voraussetzungen nachgedacht. Eine der Auswirkungen dieser Entwicklung ist eine Schwächung des antitotalitären Grundkonsenses, der Streitbarkeit der Demokratie gegen jeden Extremismus.

Wer Rechts- und Linksextremismus gleichermaßen als Gefahren betrachtet, muß sich oft schon allein deswegen rechtfertigen. Schick ist allein der „Kampf gegen Rechts“, die „Linke“ bestreitet oft eine Gefahr von linksaußen. Tatsächlich aber bedienen sich Rechts- und Linksextremisten oft ähnlicher Mittel und Themen, auch wenn sie keinesfalls in einem Atemzug genannt werden wollen. Aus Sicht des christlichen Menschenbildes ist aber nicht entscheidend, welche Ideologien seine Grundlagen in Frage stellen und angreifen.

Deshalb fordert das „C“ auch als erste Bürgerpflicht, sich mit den rechts- und linksextremistischen Gefahren für die freiheitliche Demokratie auseinanderzusetzen – ebenso wie mit religiösem oder anderem Extremismus. Diese demokratische Pflicht läßt sich nicht in der Stille erledigen, sie braucht das öffentliche Bekenntnis. Es widerspricht dem christlichen Menschenbild, die Gegner der Demokratie gewähren zu lassen oder gar mit ihnen stillschweigend gemeinsame Sache zu machen. Roman Herzog hat vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten 1994 diese Haltung auf den Punkt gebracht: Er hat damals trotz knappster Mehrheitsverhältnisse im Vorfeld erklärt, die Wahl nicht anzunehmen, wenn sie von den rechtsradikalen Stimmen der Republikaner entschieden würde. Diese hatten angekündigt, ihn zu wählen und ließen nach seiner klaren Festlegung davon ab. Sein Gegenkandidat Johannes Rau verweigerte solche Klarheit mit Blick auf die ihm von der zur PDS umbenannten SED in Aussicht gestellten Stimmen.

Verantwortung in der einen Welt

Das christliche Menschenbild läßt sich nicht durch Geographie, ethnische Zugehörigkeit, Religion oder sozialen Stand begrenzen. Es ist universell und zwingt auch die Außenpolitik zur Orientierung an Grundwerten. Das „C“ widerspricht dem Postulat einer Nichteinmischung in innere Angelegenheiten dann, wenn die Menschenrechte verletzt werden. So berührt auch der sich verschärfende Armutskonflikt zwischen Nord und Süd den Kern des christlichen Menschenbildes. Im Verhältnis zu demokratischen Staaten und Diktaturen muß es klare Unterschiede in der Enge der Beziehungen geben. Die Übereinstimmung in demokratischen Grundüberzeugungen macht in der Weltgemeinschaft aus dem Partner den Freund.

Dieser gemeinsame Wertebezug hat zur Gründung der Europäischen Union geführt und begründet ihren Erfolg der Gewährleistung von Frieden und Freiheit in Westeuropa. Nach 1989 konnte diese Werteordnung auch in Mittel- und Osteuropa durchgesetzt werden. Damit wurde das zweite große Ziel der europäischen Einigung ebenfalls verwirklicht. Oft wird gefragt, ob diese historischen Erfolge nicht ausreichen und wozu wir überhaupt weitere Fortschritte in der europäischen Integration brauchen.

Aber die Herausforderungen sind trotz der historischen Fortschritte noch keineswegs bewältigt: Uns Europäern muß im Zeitalter der Globalisierung klarer werden, daß wir nur ein kleiner Teil dieser Welt sind. Heute leben nur etwa 7,5 Prozent der Weltbevölkerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. 2050 werden wegen des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums nur rund vier Prozent der Menschheit in den EU-Mitgliedsländern leben. Wir Europäer haben als kleine Minderheit in der Weltgesellschaft nur dann eine Chance, unsere Werte, unsere politische Kultur, unsere Lebensweise und unseren Wohlstand zu bewahren, wenn wir noch mehr zusammenrücken und noch enger zusammenarbeiten.

Nach der Selbstfindung der Europäer durch die Verankerung von Frieden und Freiheit auf dem eigenen Kontinent ist deshalb die Selbstbehauptung Europas in der zusammenwachsenden Welt die neue Notwendigkeit und zusätzliche Legitimation der europäischen Einigung. Wer im Zeitalter der Globalisierung die freiheitliche Demokratie und die ihr innewohnenden Grundwerte nicht auch nach außen zum Maßstab macht, relativiert ihre Bindungskraft auch im Innern. Deshalb lassen sich gerade aus Sicht des christlichen Menschenbildes Innen- und Außenpolitik um so weniger trennen, je mehr die Welt zusammenwächst. Es sind zwei Seiten derselben Medaille – vor allem wenn man das „C“ als Chance für die Zukunft begreift.

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