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SELBSTJUSTIZ IM INTERNET PRAKTIZIEREN

25. März 2012
diejenigen, die unter Berufung auf die "Anonymous"-Bewegung unliebsame Internetseiten blockieren oder mit Hackerangriffen persönliche Daten stehlen. Solche Attacken werden aus der Anoymität initiiert und als Aktionen "wahrer" Demokraten dargestellt. Tatsächlich handelt es sich um willkürliches Faustrecht.
SELBSTJUSTIZ IM INTERNET PRAKTIZIEREN

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Selbstjustiz im Internet

Wie Anonymous ein digitales Faustrecht reklamiert 

Bei den Demonstrationen gegen die Ratifizierung des ACTA-Abkommen, das internationale Standards gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen etablieren will, verstecken sich viele Demonstranten hinter einer grinsenden Maske. Es sind Anhänger der aus dem Internet kommenden Anonymous-Bewegung. Der Gruppe kann sich jeder zurechnen, der das gemeinsame Feindbild teilt und gegen Banken, Konzerne und Regierungen vorgehen will. 

Terroristischer Anarchist als Idol 

Gerne beschreiben Anhänger die „Anonymous"-Bewegung als zufälligen Zusammenschluss unabhängiger Individuen, als „eine Idee" ohne Struktur. Zugleich geben sie ihre Individualität bereitwillig auf und unterwerfen sich ohne Bedenken einem einheitlichen Outfit (Maske) und gebetsmühlenartig wiederholten Einheitsparolen. Anonymous gebärdet sich ebenso gerne als anonymer Geheimbund wie als lockeres Netzwerk. 

Die „Anonymous“-Bewegung ist so widersprüchlich wie ihr Markenzeichen: die grinsende Maske von Guy Fawkes, hinter der sich ihre Anhänger gerne verstecken. Fawkes wollte 1605 mit mehr als zwei Tonnen Schwarzpulver das englische Parlament in die Luft sprengen. 2008 machte der Film „V wie Vendetta“ nach der gleichnamigen Comicserie das Gesicht des gescheiterten Terroristen bekannt, weil es der anarchistische Titelheld bei seinen Anschlägen als Maske trug. Die Rechte an Comic und Film liegen übrigens beim Medienkonzern Time Warner, einem der Feindbilder der Anonymous-Bewegung. Auch die von ihr benutzte Fawkes-Maske gehört zu den Merchandise-Produkten des Konzerns. So verdient der internationale Medienkonzern an jeder Maske, die seine Gegner im Kampf gegen ihn tragen... 

Drohung gegen Andersdenkende 

Angeblich um die Freiheit des Internets zu schützen, bedient sich Anonymous des größten Feindes der Freiheit: der Angst. Aus dem Lehrbuch des Totalitarismus könnten die Slogans stammen, die Anonymous-Anhänger als gemeinsames Erkennungszeichen im Internet wie ein Mantra wiederholen: „Wir sind viele, aber Du weißt nicht wer; wir sind überall, doch du weißt nicht wo.“ Dieser implizite Drohung gegenüber Andersdenkenden entspricht der explizit aggressiven Ton bis hin zu persönliche Beschimpfungen in vielen Äußerungen von Anonymous-Anhängern. Es fällt ihnen offenkundig schwer, anderen Meinungen Respekt entgegen zu bringen. 

Mit dem für Ideologien typischen Absolutheits- und Wahrheitsanspruch beansprucht beansprucht Anonymous immer wieder für die Mehrheit zu sprechen. Ein beliebter Slogan lautet in unverhüllter Anmaßung “Wir sind 99 Prozent”. Die Akzeptanz des ”agree to disagree” als eine Grundlage demokratischen Debattenkultur liegt Anonymous ebenso fern wie das Toleranzgebot von Voltaire: “Ich verachte Ihre Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen.” 

Dabei bestreiten die meisten Anonymous-Anhänger, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Demokratie sei. Daraus wird das Recht auf jede Form des Widerstands abgeleitet und z. B. auch Hackerangriffe auf unliebsame Internetangebote. gerechtfertigt. Ohne dass dieser Bezug ausdrücklich hergestellt wird, erinnert diese Sichtweise sehr an die Thesen einer “strukturellen Gewalt” wie sie Johann Galtung Ende der 60er Jahre vertreten hat. Auch viele Anonymous-Aktivisten leiten daraus das “Recht auf Gegengewalt” und sehen in demokratischen Verfahren wie dem Machtwechsel durch Wahlen keine Perspektive. 

Der Zweck heiligt die Mittel

Auf Interseiten der Bewegung sind Slogans zu finden wie: „Da niemand weiß, was richtig ist, kann niemand beurteilen, was falsch ist.“ Oder „Alles ist erlaubt!“. Solche Anarchie-Bekenntnisse sind bei vielen Anhängern sehr beliebt und führen zum Hauptproblem von „Anonymous“: 

Anonymous propagiert nicht nur, sondern praktizert das digitale Faustrecht im Internet. Man kann die Ziele des Internet-Kollektivs teilen oder auch nicht, aber viele seiner Methoden sind in der Demokratie inakzeptabel. Die Bewegung nimmt nämlich für sich in Anspruch, dass der Zweck die Mittel heiligt. Dieser machiavellistische Grundsatz ist das Gegenteil von freiheitlicher Demokratie. Anonymous kämpft gegen Internetzensur auch mit den Mitteln der Zensur, indem durch Hackerangriffe systematisch Internetangebote unliebsamer Anbieter lahmgelegt werden. Man ist gegen „Netzsperren“, um selbst nach Gutdünken im Internet zu sperren, was nicht behagt. 

Dieser Ideologie der Selbstjustiz fielen Unternehmen wie Visa, Paypal oder Mastercard, deren Internetangebote von Anonymous-Anhängern blockiert wurden, ebenso zum Opfer wie die Interseiten beispielsweise der griechischen Regierung. Hackerangriffe aus der Anonymous-Szene gab es außerdem auf das FBI, Scotland Yard und das Computersystem der GEO Group in Florida, die in den USA Gefängnisse betreibt. Solche Aktionen werden gerne als „virtuelle Sitzblockaden“ verharmlost und damit gerechtfertigt, dass sie sich ursprünglich gegen das Internetangebot von Scientology gerichtet hätten. 

Inzwischen ist aber kein Unternehmen, keine staatliche Institution und auch keine unliebsame Privatperson im Netz davor sicher. Als der Medienkonzern Sony 2011 gegen zwei Hacker klagte, die Informationen über das Kopierschutzsystem der PlayStation 3 veröffentlicht haben sollen, legte Anonymous einfach das Internetangebot des Unternehmens lahm. 

Die Willkür des eigenen Gutdünkens 

Am Heiligabend gingen Anonymous-Aktivisten noch weiter: Sie stahlen tausende Kreditkartendaten von Kunden der US-Sicherheitsfirma Stratfor mit dem Ziel, "mehr als eine Million Dollar" als Weihnachtsspenden umzuverteilen wie BBC und 'Washington Post' berichteten. Inzwischen haben Opfer des Anschlags nicht genehmigte Überweisungen angezeigt. Ausserdem wurden kurz darauf bei Wikileaks über fünf Millionen e-mails veröffentlicht, die bei dem virtuellen Überfall ebenfalls erbeutet worden waren. 

Die meisten Anonymous-Anhänger rechtfertigen solche Hackerangriffe. Offen wird dabei ein „digitales Faustrecht” reklamiert, denn Maßstab für solche Attacken auf die Meinungsfreiheit (für Anbieter) und Informationsfreiheit (für Nutzer) ist die Willkür des eigenen Gutdünkens. Es gibt auch Kommentare aus der Anonymous-Szene, die eine gewisse Distanz zu Hackerangriffen signalisieren. Insbesondere wird dabei darauf verwiesen, es handele sich dabei um Aktivitäten einer kleinen Gruppe, die nicht typisch für Anoymous sei. Eine klare Ablehnung von Hackerangriffen oder Blockaden unliebsamer Internetangebote ist allerdings praktisch nicht zu finden. 

Anonymität gegen Transparenz 

Sakrosankt ist vor allem das Prinzip der Anonymität der danach auch benannten Bewegung: „Identität ist unwichtig, wenn du weist, dass es uns gibt.“ heisst es in den Verlautbarungen der Szene. Zwar ist Anonymität, die in Diktaturen Oppositionelle vor Verfolgung schützen kann, auch in der Demokratie ein selbstverständlichen Recht: Man denke nur das Wahlgeheimnis oder die Schweigepflicht von Ärzten und Anwälten. 

Aber als Basis für Angriffe auf die Freiheitsrechte Dritter verliert Anonymität ihre Legitimität und gehört eben auch zur Grundausstattung der Gegner der Freiheit: Rechts- und Linksextremisten vermummen sich, religiöse Fundamentalisten agieren aus dem subversiven Untergrund. Wer im Schutz der Anonymität nicht nur Internetseiten lahmgelegt, sondern auch Kreditkartendaten stiehlt oder persönliche Daten veröffentlicht, bedient sich der gleichen Methoden. 

Diese ambivalente Gesicht der Anonymität wird von Anonymous-Anhängern geleugnet. Ihre Inkonsequenz zeigt sich auch darin, dass sie mit dem Beharren auf eigener Anonymität gerade die Informationsfreiheit und Transparenz beschneiden, die sie von anderen so vehement einfordern. 

 

Dr. Stephan Eisel ist ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages und Autor des Buches „Internet und Demokratie“. Der Beitrag kann auf seinem Blog http://internetunddemokratie.wordpress.com kommentiert und diskutiert werden.

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