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Deutschlands Zukunft ist mehr Europa
Nach der Selbstfindung der Europäer geht es um die Selbstbehauptung Europas
Die Diskussion um die sog. „Euro-Krise“ (die in Wahrheit eine Verschuldungs- und keine Währungskrise ist) hat die Frage nach der Zukunft der Europäischen Integration wieder ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Es geht es um die europäische Perspektive über die aktuelle Krisenbewältigung hinaus.
Zu Recht sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle, in seiner Rede beim Staatsakt am 3. Oktober 2011 in Bonn: „Europa lässt sich nicht auf ein einfaches Rechenspiel reduzieren. Man kann hier nicht am Abend eines Tages auf die Kasse drücken und schauen, was habe ich gegeben und was habe ich herausbekommen. Europa ist keine Momentaufnahme. Die Europäische Union gründet auf der historisch unhintergehbaren Einsicht, dass Frieden, Freiheit und Wohlstand auf diesem Kontinent dauerhaft nur durch einen engen Verbund gewährleistet werden können. Das gilt in guten wie in schlechten Zeiten, das gilt heute und auch morgen. Wie dieser Verbund konkret ausgestaltet sein soll, darüber müssen wir uns immer wieder auseinandersetzen; verbunden werden wir immer bleiben.“
Das Zeitalter scheinbar voneinander unabhängiger Nationalstaaten ist längst vorbei. Das haben wir in der Außen- und Sicherheitspolitik begriffen und beginnen es in der Wirtschafts- und Finanzpolitik besser zu verstehen. Für nationale Alleingänge ist die Welt auch wirtschaftlich längst zu sehr zusammengewachsen und Deutschland darin zu klein. Schon wegen unserer Exportabhängigkeit ist die wirtschaftlichen Stabilität insbesondere unserer europäischen Nachbarn für uns lebenswichtig. Auch in den internationalen Finanzmärkten sind wir Deutschen alleine zu schwach. Ohne mehr europäische Einigkeit werden wir unser Werteverständnis einer Sozialen Marktwirtschaft dort nicht durchsetzen und für uns selbst nicht sichern können.
Die Motivation der Gründergeneration „Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur!“ hat nach 1945 zur Gründung der Europäischen Union geführt und begründet ihren Erfolg, Frieden und Freiheit für und in Europa zu sichern. Das bleibt wichtig, reicht aber nicht mehr aus.
Uns Europäern muss im Zeitalter der Globalisierung klarer werden, dass wir nur ein kleiner Teil dieser Welt sind. Heute leben nur etwa 7,5 Prozent der Weltbevölkerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. 2050 werden wegen des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums nur rund 4 Prozent der Menschheit Europäer sein. Wir haben als kleine Minderheit in der Weltgesellschaft nur dann eine Chance, unsere Werte, unsere politische Kultur, unsere Lebensweise und unseren Wohlstand zu bewahren, wenn wir noch mehr zusammenrücken und noch enger zusammenarbeiten.
Nach der Selbstfindung der Europäer durch die Verankerung von Frieden und Freiheit auf dem eigenen Kontinent ist die Selbstbehauptung Europas in der zusammenwachsenden Welt die neue Notwendigkeit und zusätzliche Legitimation der europäischen Einigungsbewegung.
Leider wird zu selten darüber gesprochen, wie das geeinte Europa der Zukunft aussehen soll. Aber Unklarheit schafft auch hier nur Unsicherheit. Wer das Ziel nicht beschreibt, wird den Weg dorthin nicht finden.
Die „Vereinigten Staaten von Europa“ hat der große Schriftsteller Victor Hugo in seiner Eröffnungsrede für den Pariser Friedenskongress 1849 ebenso gefordert wie Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede 1946. Man kann auch wie die CDU in ihrem ersten Grundsatzprogramm 1978 vom „europäischen Bundestaat“ sprechen. Es geht um ein föderalistisches Gegenmodell zu einem europäischen Zentralstaat, um ein Europa nach „bundesstaatlichen Prinzipien und Methoden“ wie es im aktuellen Grundsatzprogramm der CDU aus dem Jahr 2007 heißt. Dort wird auch zu Recht formuliert: „An dem langfristigen Ziel, eine Verfassung für die Europäische Union zu schaffen, halten wir fest.“ Europa braucht eine solche Verfassung, um seine Gestalt für die Zukunft zu finden.
Dazu ist es notwendig, die Demokratiereform für die europäischen Institutionen voranzutreiben. Schon für den status quo der Integration reichen die gegenwärtigen Verfahren nicht aus, für die Einigungsnotwendigkeiten der Zukunft umso weniger. Es geht um mehr Handlungsfähigkeit und bessere demokratische Kontrolle. Dabei muss das von den Bürgern frei gewählte Europäische Parlament ebenso weiter gestärkt werden wie die nationalen Parlamente in der Kontrolle der nationalen Regierungen, die als versammelte Exekutivmacht in den europäischen Räten noch zu viel (unkontrolliertes) Eigenleben entwickeln.
Auf diesem Weg war der Lissabonner Vertrag ein unverzichtbares Instrument, denn er etabliert und stärkt Subsidiaritätsprinzip auf europäischer Ebene. Dieses Subsidiaritätsprinzip hat zwei Seiten: Einerseits die Dezentralisierung; andererseits die Stärkung der Ebene, der eine Aufgabe zur Erledigung zugewiesen wird. So verlagert der Lissabonner Vertrag Aufgaben von Brüssel in die Mitgliedstaaten und Regionen. Zugleich stärkt er die europäische Ebene, wo es für die Selbstbehauptung Europas wichtig ist: Vor allem bei der inneren und äußeren Sicherheit. Jetzt kommt es darauf an, auch bessere Regeln zur Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zu vereinbaren. Schon deshalb muss der Lissabonner Vertrag weiterentwickelt werden, der vor der Finanzkrise im Dezember 2007 unterzeichnet worden ist.
Zur Klarheit über die künftige Gestalt Europas gehört es auch, die Strategie der EU-Erweiterungspolitik auf den Prüfstand und wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Die sog. „Kopenhagener Kriterien“ legen fest: „Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können “
Es war falsch, Beitrittsverhandlungen mit Ländern aufzunehmen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen. So sind diese Beitrittsverhandlungen zu einem pädagogischen Instrument geworden, zu einer Art permanenter Nachhilfestunde: Notwendige Reformen werden oft nicht aus eigener Einsicht und um ihrer selbst Willen durchgeführt, sondern damit der Beitrittsprozess weitergeht. So entfalten sie keine nachhaltige Wirkung und der Mitgliedschaft fehlt später die stabile Grundlage. Das gilt für die übereilte Aufnahme von Rumänien und Bulgarien in die EU ebenso wie für die Aufnahme Griechenlands in den Euro-Raum oder verfrühte Beitrittsofferten an Serbien. Nicht die EU muss ständig um neue Mitglieder werben, sondern aufgenommen zu werden, sollte eine Auszeichnung sein.
Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei offenbaren eine weitere grundlegende Schwäche der aktuellen EU-Erweiterungspolitik: In Artikel 49 EU-Vertrag heißt es: „Jeder europäische Staat, der die in Artikel 6 Absatz 1 genannten Grundsätze achtet, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden.“ Es geht dabei in Artikel 6 um die „Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit." Aber es kann eben nicht jeder Staat, der diese Grundsätze erfüllt, Mitglied der EU werden, sondern nur „jeder europäische Staat“. Die geographische Komponente ist also ein Beitrittskriterium und muss endlich enttabuisiert werden. Europa kann nicht länger der Frage ausweichen, wo seine Grenzen sind. Es ist kein unbestimmter Bekenntnisraum, zu dem man sich per Deklaration als zugehörig empfindet. Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft mit geographischem Bezug.
Europäische Selbstbehauptung als Begründung für weitere Integrationsschritte, mehr Demokratie zur Steigerung der europäischer Handlungsfähigkeit und eine klare Definition der Grenzen Europas — das ist die europäische Tagungsordnung der Zukunft. In diesem Sinn braucht die Europäische Union mehr Klarheit und die Europapolitik auch in Deutschland mehr Selbstbewußtsein.