Warum ein Staatsvertrag beim Thema Bonn-Berlin in die Irre führt, lesen Sie hier.
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in: DIE POLITISCHE MEINUNG Nr. 538, Mai/Juni 2016, 61. Jahrgang
Stephan Eisel
Hauptstadt am Rande
Berlin fehlen die Nachbarn
Berlin ist eine merkwürdige Hauptstadt: zugleich Touristenattraktion und die unbe- liebteste Großstadt im eigenen Land. Viele Deutsche identifizieren sich nicht mit ihrer Hauptstadt, und für Berlin ist DeutschlandsMitte oft in weiter Ferne: Kaum etwas ist untypischer für Deutschland als seine Hauptstadt.
Wenn danach gefragt wird, wo man gerne wohnen möchte, führt Berlin die Negativliste der vierzehn größten deutschen Städte an. Das bestätigte Anfang 2016 eine Befragung von 1.300 Deutschen. „Feiern in Berlin, wohnen lieber anderswo“ fasst das Meinungsforschungsinstitut YouGov die Ergeb- nisse seiner Studie zusammen: „An Berlin scheiden sich die Geister.“
Gefragt nach der „sympathischsten Stadt“, erreicht die Hauptstadt in einer repräsentativen Befragung von 5.000 Deutschen nur Rang 12 von 34 be- werteten Städten (Brandmeyer Markenberatung „Stadtmarken-Monitor 2015“) – abgeschlagen hinter den Spitzenreitern Hamburg, Freiburg im Breisgau und Köln, aber auch hinter Städten wie Dresden, Lübeck, Münster oder Kiel. Selbst bei jungen Leuten (bis 29 Jahre) belegt Berlin nur Platz 11 auf der Sympathieskala. Wird nach dem guten Ruf gefragt, rutscht die Hauptstadt mit Platz 15 endgültig ins Mittelfeld ab.
WARUM DIE SKEPTISCHE RESERVE?
Woran liegt es eigentlich, dass Berlin auch 25 Jahre nach dem Hauptstadt- beschluss des Deutschen Bundestages für die meisten Deutschen kein Identifikationspunkt ist, sondern weit über die übliche Distanz zu einem Politikzentrum hinaus mit skeptischer Reserve begleitet wird?
Berlins Hauptproblem ist seine latente Unfähigkeit, sich selbst nicht im Mittelpunkt zu sehen. Der Hauptstadt fehlt die Gabe, sich selbst zu relativieren. Dazu trägt entscheidend bei, dass die Metropole praktisch keine Nachbarn hat: In der Hauptstadt leben seit der Wiedervereinigung gleichblei- bend etwa 3,4 Millionen Menschen. In Brandenburg, das Berlin umschließt, sind es – selbst unter Einschluss des auf Berlin fixierten „Speckgürtels“ – mit abnehmender Tendenz nur 2,4 Millionen.
In einem Radius von 250 Kilometern um Berlin leben weniger als zehn Millionen Menschen. Das heißt: Auf jeden Hauptstadt-Bürger kommen durchschnittlich drei Nachbarn in der Erreichbarkeit von Hin- und Rückweg an einem Tag. Für die anderen deutschen Millionenstädte liegt dieser Index selbst in den geografischen Randlagen Hamburg und München um das Drei- fache und für Köln in seiner Mittellage sogar um das Zehnfache höher.
Berlin hat auch nach der Wiedervereinigung seine Insellage auf neue Art behalten. Es kann sich an nichts in der Nachbarschaft reiben und kommt Wettbewerbern nicht wirklich nahe. Das unterscheidet es auch von Paris, London, Warschau oder Rom. Nicht nur deren Umfeld ist stärker besiedelt. Im 250-Kilometer-Radius um diese Hauptstadt-Metropolen liegt auch wenigstens eine andere der zehn größten Städte des jeweiligen Landes. In Sicht- weite Berlins liegt jedoch keine der dreißig größten deutschen Städte. Für achtzig Prozent der Deutschen ist die Hauptstadt weit entfernt, sozusagen hinter dem Horizont.
AUF SICH SELBST ZURÜCKGEWORFEN
So ist Berlin mit sich selbst allein und auf sich selbst zurückgeworfen. Das bleibt nicht ohne Folgen: Viele Berliner denken, was im Tagesspiegel steht, würde Deutschland bewegen, und der Wiederaufbau des Berliner Schlosses sei ein nationaler Identifikationspunkt. Beides interessiert die Deutschen außerhalb Berlins allerdings praktisch nicht. Die Hauptstadt nimmt sich selbst viel wichtiger, als die Deutschen sie nehmen, und sie ist deshalb auch kein wirklich guter Ort, um Deutschland kennenzulernen.
Auch Flops wie das endlose Theater um den Flughafenbau, die für eine deutsche Großstadt singulären behördlichen LAGeSo-Probleme bei der Flüchtlingsaufnahme oder jüngst das beschämende Begräbnis eines Einheits- denkmals scheinen die Tugend der Bescheidenheit in der Hauptstadt nicht zu befördern. Die Reaktion zeigt eher Stolz auf die eigene Einzigartigkeit auch im Scheitern. Wowereits „Arm, aber sexy“ hat dieses Selbstverständnis auf den Punkt gebracht. Ein Slogan, der in Berlin ebenso populär ist, wie er bei den meisten Deutschen Kopfschütteln auslöst.
ZWEITE LIGA, ENTFERNTE WAHLKREISE
Es gibt nur wenige Erfahrungen, die den Berlinern ihre Grenzen dennoch bewusst machen: Die beiden auffälligsten haben mit Fußball und mit dem Bundestag zu tun.
Beim Volkssport der Deutschen rangiert die Hauptstadt im Mittelfeld und steigt gelegentlich sogar in die zweite Liga ab. Im Unterschied zu anderen europäischen Metropolen wurde auch die Meisterschaft noch nie erreicht, eine Teilnahme an der Champions League ist die absolute Ausnahme. Außer- halb von Berlin überrascht das niemanden, aber in Berlin halten viele diesen Durchschnitt für unter ihrer Hauptstadt-Würde. Die Stadt war auch ins Mark ihres ungebremsten Selbstbewusstseins getroffen, als sie 1993 im Internatio- nalen Olympischen Komitee bei der Olympiabewerbung 2000 nur neun von 89 Stimmen erhielt und 2015 schon am nationalen Deutschen Olympischen Sportbund mit der Bewerbung für 2024 an Hamburg scheiterte. In Deutsch- land insgesamt hielt sich die Enttäuschung darüber sehr in Grenzen.
Die zweite nachhaltige Relativierung im Alltag erfährt Berlin durch seine prominentesten Pendler, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Durch den ständigen Wechsel zwischen Sitzungswochen in der Hauptstadt und sitzungsfreien Wochen im Wahlkreis erfahren und vermitteln sie immer wieder neu, dass Berlin nicht das Zentrum Deutschlands ist. Neben der im Grundgesetz verankerten föderalen Struktur Deutschlands ist diese Organisation des deutschen Parlamentsbetriebs eine der wichtigsten Sicherungen für Bürgernähe gegen Zentralismus. So müssen die Regierenden im Zentrum immer wieder die Erfahrung machen, dass jene, die sie zum Wochenende als Herolde aus der Hauptstadt ins Land schicken, montags als Botschafter des Volkes dorthin zurückkehren.
Die 2013 verstorbene Journalistin Tissy Bruns, erste Vorsitzende der Bundespressekonferenz nach dem Berlin-Umzug, hat in ihrem 2007 erschienenen „Bericht aus Berlin“ unter der Überschrift „Republik der Wichtigtuer“ zum Berliner Politikbetrieb resümiert: „Berlin-Mitte ist zu einer Bühne von Politik und Medien geworden, die von der Lebenswirklichkeit der Bürger weiter entfernt ist als das legendäre Raumschiff Bonn.“
„BONN NEBEN BERLIN“
Dass sich die Hauptstadt so entwickelt, wenn sie in eine Metropole in Rand- lage verlegt wird, war eine der wesentlichen Befürchtungen bei der umkämpf- ten Bonn-Berlin-Entscheidung am 20. Juni 1991 – denn: Bonn stand im Unterschied zu Berlin nie in der Gefahr der Selbstüberschätzung und liegt als Stadt mittlerer Größe nicht nur geografisch in der Mitte Deutschlands.
Mit nur 338 zu 320 Stimmen beschloss der Deutsche Bundestag da- mals den „Berlin-Antrag“ mit der Festlegung, dass im Rahmen einer „fairen Arbeitsteilung“ neben dem Parlamentssitz lediglich „der Kernbereich der Regierungsfunktionen in Berlin angesiedelt wird.“ In der zwölfstündigen De- batte mit 104 Rednern unterstrichen auch prominente Berlin-Befürworter den Kompromisscharakter ihres Antrages. Willy Brandt plädierte für „Bonn neben Berlin“, und Lothar de Maizière sagte: „Ich gehöre zum Lager der Berlin-Befürworter; dennoch spreche ich mich für einen Konsens aus oder für einen Kompromiss oder, wie der Jurist sagt, für den im Wege gegenseitigen Nachgebens gefundenen Vergleich.“
Zur rechtlichen Umsetzung dieses Beschlusses verabschiedete der Bundestag am 26. April 1994 das Berlin-Bonn-Gesetz. Artikel 1 bestimmt als Zweck dieses Gesetzes, „die Wahrnehmung von Regierungstätigkeiten in der Bundeshauptstadt Berlin und in der Bundesstadt Bonn zu sichern.“ Dies solle geschehen durch „eine dauerhafte und faire Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn“.
Auf dieser Grundlage regelt Artikel 4 des Berlin-Bonn-Gesetzes: „Bundesministerien befinden sich in der Bundeshauptstadt Berlin und in der Bundesstadt Bonn. […] Die in der Bundesstadt Bonn verbleibenden Bundesministerien sollen auch einen Dienstsitz in der Bundeshauptstadt Berlin er- halten. Die ihren Sitz in der Bundeshauptstadt Berlin nehmenden Bundesministerien sollen auch einen Dienstsitz in der Bundesstadt Bonn behalten.“ Dabei solle „insgesamt der größte Teil der Arbeitsplätze der Bundesministerien in der Bundesstadt Bonn erhalten“ bleiben.
Darauf beruht die seit fünfzehn Jahren erfolgreiche Praxis von acht Bundesministerien mit erstem Dienstsitz in Berlin und sechs Ministerien mit erstem Dienstsitz in Bonn. Unterlaufen haben allerdings alle Bundesregierungen seit dem Umzug die gesetzliche Festlegung, dass „der größte Teil“ der ministeriellen Arbeitsplätze in Bonn bleiben solle. Dass auf Berlin inzwischen 11.500 dieser Stellen und auf Bonn nur 6.500 entfallen, ist ein klarer Gesetzesbruch und beschädigt die Glaubwürdigkeit von Politik.
Der von Berlin immer wieder geforderte Komplettumzug der Regierung unterstreicht den Egozentrismus einer Hauptstadt, die neben sich nichts gelten lassen will. Eine solche Entscheidung wäre nicht nur eine Abkehr von jenem Kompromiss, der dem Berlin-Beschluss 1991 erst die knappe Mehrheit verschaffte, sondern würde zudem die Staatskasse mit circa fünf Milliarden Euro belasten. Allein die Zinslast dieser zusätzlichen Verschuldung würde die Kosten für zwei Regierungssitze um ein Vielfaches überschreiten. Diese hat die Bundesregierung 2015 mit jährlich 7,5 Millionen Euro angegeben. Selbst der Bundesrechnungshof hat festgestellt, dass die Aufteilung des Regierungssitzes zwischen den beiden Städten auch langfristig billiger ist als ein Komplettumzug.
NICHT DER NABEL DEUTSCHLANDS
Wer dennoch alles nach Berlin verlagern will, läuft Gefahr, seine Verankerung in der Mitte Deutschlands zu lösen. Das gilt nicht nur für die Bundesregie- rung, sondern auch für Verbände, Stiftungen und andere Institutionen.
Ursprüngliche Befürchtungen, die Verlagerung der Hauptstadt in die Millionenmetropole Berlin würde den Föderalismus in Deutschland schwächen, haben sich nicht bewahrheitet. Es ist die umgekehrte Entwicklung eingetreten: Berlin spielt im föderalen Deutschland eher eine Nebenrolle und steht nicht im Mittelpunkt. Für Deutschlands inneres Gleichgewicht ist das eine gute Nachricht. Problematisch ist freilich, dass man sich in Berlin so schwertut, diese Realität zu akzeptieren. Die Hauptstadt sollte sich in das bundesstaatliche Gefüge einordnen und sich nicht selbst immer wieder zum Nabel Deutschlands stilisieren. Mit Selbstbescheidung könnte Berlin seine Randlage überwinden und die Hauptstadt ihren Platz in der Mitte Deutschlands finden.