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Stephan Eisel
Digitale Partizipation
Demokratiekompetenz nicht der Technikfaszination opfern
Für die freiheitliche Demokratie ist das Engagement, die Teilhabe und Beteiligung der Bürger über Wahlen hinaus unverzichtbar. Das Internet bietet dafür ohne Zweifel neue Möglichkeiten. Insbesondere erleichtert es vielen Bürgern den Zugang zu Informationen und bietet der freien Meinungsäußerung neue Foren. Es bietet damit auch den gewählten Mandatsträgern die Möglichkeit, ihre Entscheidungen auf der Grundlage einer breiteren Meinungs- und Faktenbasis zu treffen. Diese Stärkung der Informations- und Meinungsfreiheit ist auch eine Stärkung der Demokratie insgesamt.
Allerdings ist das Internet nicht per se demokratisch. Wie andere Medien bietet es eigene Chancen, birgt aber auch spezifische Gefahren. Auch Bürgerbeteiligung durch das und im Internet muss demokratischen Maßstäben gerecht werden. Die Faszination über die technischen Möglichkeiten des Internets entbindet nicht von der Frage nach den Chancen und Gefahren für die Demokratie. Zur Technikfaszination gehört in einer freiheitlichen Gesellschaft zwingend Demokratiekompetenz. Wer die Chancen des Internets für Bürgerbeteiligung sinnvoll nutzen will, muss die Grenzen des Netzes ebenso kennen wie seine Möglichkeiten.
Es sind insbesondere drei Problemkreise, die bei „digitaler Partizipation“ unter demokratischen Gesichtspunkten kritisch zu betrachten sind:
1) Angesichts der begrenzten Reichweite des Internets darf demokratisches Handeln keine Ausschließlichkeit der digitalen Welt zulassen.
Freiheitliche Demokratie muss allen Bürgern den allgemeinen, unmittelbaren und gleichen Zugang zur politischen Arena garantieren. Diese gleichen Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten für alle kann das Internet (bisher?) nicht bieten. Nach allen vorliegenden Studien hat ca. 20 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung über 14 Jahre keinen Internetzugang bzw. nutzt diesen nicht. Die Zahl verändert sich in den letzten Jahren nur unwesentlich. Dabei gilt als „Onliner“ in den Statistiken schon, wer das Internet innerhalb der letzten vier Wochen nur einmal genutzt hat.
Selbst wer einen Internetzugang hat, bewegt sich also deswegen noch keineswegs regelmäßig und routiniert im Netz. Die ARD/ZDF-Onlinestudie 2013 betont zu Recht, „dass die bloße Verfügbarkeit des Internets nicht automatisch zu einer routinierten und habitualisierten Internetnutzung führt…43 Prozent aller deutschen Internetnutzer gehören entweder der Gruppe der Randnutzer (25 %) oder der Selektivnutzer (18 %) an. … Kennzeichnend für diese beiden Gruppen ist, dass sie das Internet noch nicht in ihren Medienalltag integriert haben und sich ihre Nachfrage auf wenige bekannte Angebote und Funktionen beschränkt.“[1] Dass sich dies seitdem nicht wesentlich verändert hat, zeigt die ARD/ZDF-Online-Studie 2015, die ermittelt hat, dass nur 12 Prozent der Nutzer an Internetforen teilnehmen und nur 8 Prozent Blogs nutzen.[2]
Es darf nicht übersehen werden, dass das Internet im Kern kein niedrigschwelliges, sondern ein forderndes Angebot ist. Es ist - im Unterschied zu Fernsehen und Radio - kein Konsummedium, sondern ein Aktivitätsmedium mit der Folge struktureller Ungleichheiten. Im Internet gilt: Wenn man nichts tut, tut sich auch nichts. Die Nutzung des Internets setzt nicht nur ein Minimum an Technikaffinität und die Bereitschaft zur Aktivität voraus, sondern auch die dafür notwendige Zeit. Es privilegiert diejenigen, denen als „Bildschirmarbeiter“ auch am Arbeitsplatz ein ständiger Netzzugang zur Verfügung steht. Wer seinen Alltag in der „Bürowelt“ verbringt, hat es in der Internetwelt leichter als jemand, der im Handwerk, dem produzierenden Gewerbe oder dem Dienstleistungssektor arbeitet.
Bei der politischen Teilhabe im Internet gibt es keine Chancengerechtigkeit zwischen dem Bauarbeiter und dem Bürokaufmann. Die eigentliche strukturelle digitale Spaltung verläuft zwischen denen, für die beim Internetzugang Arbeits- und Freizeit keinen Unterschied macht, und denen, die im begrenzten Zeitbudget ihrer Freizeit die Wichtigkeit der Nutzung des Internet für sich abwägen müssen. Im Internet dominieren die „Zeitreichen“ – übrigens auch im Blick auf diejenigen, die sich Zeit für Vertretung ihrer Lobbyinteressen bei digitalen Dienstleistern einkaufen.
2) Geschwindigkeitsdruck sowie entgrenzte und zugleich fragmentierte Kommunikationsräume schaffen als Netzspezifika Demokratieprobleme.
Freiheitliche Demokratie ist im Blick auf Gemeinwohlorientierung und friedliche Konfliktregelung essentiell darauf angewiesen, dass der Entscheidung die Entscheidungsfindung durch den offenen Austausch von Argumenten vorangeht. Voraussetzung dafür ist sowohl ein allgemein zugänglicher, aber zugleich auch überschaubarer Kommunikationsraum als auch die für die Debatte notwendige Zeit.
Das Internet privatisiert den öffentlichen Raum aber ebenso wie es ihn globalisiert. In beidem liegt eine Gefahr: Das Internet animiert ebenso sehr zum Tunnelblick im Kreise Gleichgesinnter wie es in seiner Grenzenlosigkeit dem überschaubaren öffentlichen Raum die integrierende Wirkung nimmt. Es bietet keinen für die demokratische Debatte wichtigen einheitlichen Kommunikationsraum, sondern entgrenzt diesen ebenso wie es zugleich in fragmentierte Echogesellschaften zerfällt. Zwar kann sich im Netz jeder äußern, das heißt aber nicht, dass er auch gehört wird. Der Ort der Debatte ist im Internet für die Initiatoren eines Diskurses schwer zu bestimmen und für die Nutzer schwer zu finden.
Zugleich ist im Netz der schnelle Klick die gültige Währung. Geschwindigkeit ist aber kein Ausweis von Demokratiesteigerung. Die freiheitliche Demokratie gewinnt dadurch Stabilität, dass sie der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ihre Reifezeit gibt. Der Geschwindigkeitsdruck im Internet begünstig konträr dazu Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit sowie eine Atmosphäre sich schnell wandelnder Stimmungen, Emotionen und Skandalisierungen. Im Netz gibt es selten Zeit für sachliche Reflektion, integrierende Kommunikation und entscheidungsbezogene Gelassenheit.
Die Fixierung auf Schnelligkeit geht im Netz zugleich oft mit Leichtgläubigkeit einher. Der leichte Informationszugang und die enorme Informationsfülle verstellen nicht selten den kritischen Blick auf den tatsächlichen Informationsgehalt. Verbreitet ist eine naive Netzgläubigkeit: schon die Verfügbarkeit von Daten im Internet garantiere deren Seriosität. Transparent und seriös ist etwas aber nicht schon allein deswegen, weil es im Netz steht. Datenfülle führt nicht per se zur Kenntnistiefe.
3) Internetabstimmungen sind undemokratische Manipulationsinstrumente kleiner Netzeliten.
Das Internet gilt den Anhängern „direkter“ Demokratie als Durchbruch in ein Zeitalter plebiszitärer Verfahren: Überall und über alles von möglichst allen abstimmen zu lassen scheint ohne große Probleme technisch machbar zu sein. Allerdings potenzieren sich im Cyberspace zugleich die Schwächen einer „Plebiszit-Demokratie“. Neben der Entkoppelung von Entscheidung und Verantwortung ist die Annahme eines ständig politisch interessierten und aktiven Bürgers als Regelfall problematisch.
Die freiheitliche Demokratie zählt zwar auf das politische Engagement der Bürger für ihre Gesellschaft, räumt ihnen aber ausdrücklich auch das Recht ein, unpolitisch zu sein. Davon wird nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Netzes reichlich Gebrauch gemacht. Das Internet ist nicht zu politischen Zwecken erfunden, erprobt und entwickelt worden und wird auch nur von einer kleinen Minderheit dazu genutzt. Der Cyberspace ist für seine Bewohner um ein Vielfaches mehr der Markt- und Spielplatz als er ein Politikforum ist.
Dies kommt auch in der durchgängig extrem niedrigen Beteiligung an partizipativen Onlineverfahren zum Ausdruck:
Diese äußerst geringen Beteiligungszahlen zeigen, dass Abstimmungsergebnissen aus Online-Beteiligungsverfahren die demokratische Legitimität fehlt, durchschaut des „Kaisers neue Kleider2: die sie in unserer zahlengläubigen Welt so gerne vorspiegeln. Wer sich bei der digitalen Partizipation nicht mit Prozentzahlen irreführen lässt, sondern nach absoluten Zahlen fragt, wird dies schnell merken. Abstimmungen im Internet sind nicht nur äußerst manipulationsanfällig, sondern überhöhen auch kleine aktive Netzeliten. Man sollte deshalb auf solche Abstimmungstools bei der digitalen Partizipation verzichten und sie stattdessen als Foren des Austauschs von Argumenten stärken.
Meist diskutieren politisch Interessierte und Aktive über Politik im Netz. Sie neigen dazu, sich selbst zum Maßstab zu machen und die Rolle von Politik im Internet zu überschätzen. Dass sich politikaffine Menschen im Internet leichter begegnen und vernetzen können, sollte sie nicht zur Fehlannahme verleiten, es gebe durch das Internet ein höheres Politikinteresse. Diese „Mobilisierungsthese“ ist längst widerlegt. Bewahrheitet hat sich die „Verstärkungsthese“, d.h. das Internet bietet vor allem den auch außerhalb des Netzes schon Politikinteressierten ein zusätzliches Forum.
Die Bevölkerung insgesamt steht Online-Beteiligungsplattformen sehr skeptisch gegenüber: Im zweiten Halbjahr 2013 befragte die Bertelsmann-Stiftung telefonisch 2.700 Bürger ab 18 Jahren aus 27 Städten und Gemeinden nach ihren bevorzugten kommunalen Beteiligungsformen. Unter allen Beteiligungsformen schnitt sowohl bei den Bürgern als auch bei den Entscheidungsträgern „Online-Beteiligung“ am deutlich schlechtesten ab und wurde in beiden Gruppen mit klarer Mehrheit abgelehnt. Dies ist umso bemerkenswerter als in fast einem Drittel der einbezogenen Kommunen (8 von 27) Online-Beteiligungsverfahren (meist als Online-Bürgerhaushalte) bereits durchgeführt worden waren.
Die Bertelsmann-Stiftung fasst die Ergebnisse so zusammen: „Auffallend in der Rangliste demokratischer Beteiligungswege ist jedoch die ausgesprochen schlechte Bewertung neuer Formen der Onlinebeteiligung – diese haben von allen Beteiligungsformen die geringste Zustimmung erhalten. Nur die Onlinebeteiligung bewerten mehr Menschen eher negativ (43%) als positiv (33%).“[3] Diese Ergebnisse entsprechen übrigens den Erkenntnissen einer Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2011. Damals stehen nur 39 Prozent elektronischen Petitionen und nur 32 Prozent Internet-Blogs prinzipiell positiv gegenüber. 58 bzw. 67 Prozent der Befragten sagten, das komme für nicht in Frage. Von Wahlen sagten das nur fünf Prozent. Fazit der Bertelsmann-Stiftung schon 2011: „Möglicherweise in der öffentlichen Diskussion bislang überschätzt werden dagegen die neuen Formen der Meinungsbildung und Bürgerbeteiligung über das Internet. Offensichtlich sind diese Formen der Beteiligungsmöglichkeit nur für eine qualifizierte Minderheit begehrt."[4]
Man muss diese Grenzen des Internets kennen, wenn man seine Chancen verantwortungsvoll nutzen will: Digitale Partizipation als Diskursforum bietet der Bürgerbeteiligung in einer freiheitlichen Demokratie interessante zusätzliche Möglichkeiten. Die Ausweitung von Meinungs- und Informationsfreiheit ist dabei zugleich Fundament und Kern. Wer im Netz aber nicht nur die Debatte, sondern auch die Entscheidung sucht, lässt „Bürgerbeteiligung im Internet“ zu einem potemkinschen Dorf verkommen, in dem privilegierte kleine Internet-Eliten auf Kosten der großen Mehrheit der Bürger agieren. Damit würde die Demokratiekompetenz der Technikfaszination geopfert werden.
Als Benjamin Franklin im Sommer 1787 in Philadelphia als Mitglied des amerikanischen Verfassungskonvents nach Abschluss der Beratungen von einem Passanten gefragt wurde: „What have you given us?“ antwortete er mit Hinweis auf die Verantwortung jedes Einzelnen: „A Republic, if you can keep it.“ Bezogen auf das Internet und seine Chancen für mehr Bürgerbeteiligung könnte man heute hinzufügen: „Democracy – if you can use it.“
[1] http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/fileadmin/Onlinestudie/PDF/Eimeren_Frees.pdf
[2] http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/index.php?id=531
[3] http://mitwirkung.bw21.de/Downloads/Demokratie%20im%20Wandel%20Bertelsmann.pdf
[4] http://www.stephaneisel.de/clubs/eisel/news/Bertelsmann-Umfrage.pdf