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DEN VOLKSKAMMERWAHLKAMPF 1990

15. Februar 2015
habe ich als enger Mitarbeiter von Helmut Kohl miterlebt. Mit großer Skepsis gegenüber der DDR-CDU initiierte Kohl damals mit DDR-Bürgerrechtlern die "Allianz für Deutschland", die dann am 18. März 1990 einen überwältigenden Wahlerfolg erzielte.
Stephan Eisel und Helmut Kohl 1990 auf dem Bonner Marktplatz
Stephan Eisel und Helmut Kohl 1990 auf dem Bonner Marktplatz

 

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Die Volkskammerwahl am 18. März 1990
aus: Stephan Eisel, Helmut Kohl – Nahaufnahme, Bonn 2010 /2012

Das Ende der SED-Herrschaft zeichnete sich nach dem Mauerfall am 9. November 1989 immer deutlicher ab. Ich erlebte diese Zeit als stv. Leiter des Kanzlerbüros in unmittelbarer Nähe von Helmut Kohl.

Für die CDU und auch Helmut Kohl gab es damals eine wesentliche ungelöste Frage. Wer war eigentlich in der nach dem Mauerfall neu entstehenden Parteienlandschaft der DDR der Wunschpartner? Kohl hat sich immer jedem Kontakt mit der von der SED gleich-geschalteten Blockpartei DDR-CDU verweigert. Er lehnte dies nicht zuletzt im Blick das Schicksal der verfolgten christlichen Demokraten in der damaligen sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ab.

Immer wieder erinnerte Kohl an die vielen CDU-Mitglieder, die damals inhaftiert oder in die Sowjetunion deportiert wurden und ihr Leben verloren. Kontakt mit der Block-CDU wäre für ihn wie Verrat am Schicksal dieser Parteifreunde gewesen. Wenn er schon die Okkupation des Namens CDU in der DDR nicht verhindern konnte, so wollte Kohl die von der SED installierte Blockpartei und deren Vorsitzenden Gerald Götting in keiner Weise legitimieren.

Vor diesem Hintergrund war es nicht überraschend, dass sich bei Helmut Kohl alles sträubte, bei der anstehenden Volkskammerwahl einfach als Wahlhelfer für diese DDR-CDU aufzutreten. Daran hatten auch die Veränderungen innerhalb der DDR-CDU wenig geändert. Kohl sah diese Entwicklung mit einer gehörigen Portion Skepsis.

Seinen Respekt hatten die vier CDU Mitglieder – an der Spitze Christine Lieberknecht -, die im Sommer 1989 in einem Brief an die Spitze der Blockpartei Veränderungen forderten. Diese Aktion fand mit hohem persönlichem Risiko statt, blieb aber zunächst ohne erkennbares Echo.

Erst am 2. November 1989 trat der langjährige Vorsitzende der DDR-CDU Gerald Götting zurück. Am Tag nach dem Mauerfall wurde Lothar de Maiziere vom – seinerseits nicht demokratisch legitimierten – Hauptvorstand als neuer Vorsitzender gewählt. Wie groß war unsere Enttäuschung, als wir die Meldungen der Nachrichten-Agenturen über seine ersten Äußerungen lasen. Er kritisierte einerseits scharf die Zustände in der DDR und bezeichnete andererseits einem Interview mit der Bild am 19. November 1989 – zehn Tage nach dem Mauerfall – den Sozialismus als „eine der schönsten Visionen menschlichen Denkens“ und sagte: „Wenn Sie glauben, dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet, dann müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass wir unterschiedlicher Auffassung sind.“

Außerdem verstanden wir die Bereitwilligkeit nicht, mit der de Maiziere in die SED-Regierung Modrow eintrat. Mit dem Fall der Mauer konnten endlich auch die Kontakte mit den Oppositionellen in der DDR intensiviert werden. Viele von ihnen reisten zu Gesprächen in den Westen.

Helmut Kohl unterstrich immer wieder seine skeptische Haltung gegenüber der DDR-CDU und überlegte ebenfalls, inwieweit man eine Parteigründung vorbereiten könne, etwa unter dem Namen „Christliche Volkspartei“. Das Problem sei eben, dass die CDU bei den Wahlen mit durch die Blockpartei-Vergangenheit belastet sei. Beim Parteitag der DDR-CDU am 15./16. Dezember 1989 wurde Lothar de Maiziere von Delegierten, die inzwischen ganz überwiegend in demokratischen Urwahlen neu bestimmt worden waren, als Parteivorsitzender bestätigt.

Zu jenem kleinen CDU-Parteitag (Bundesausschuß) am 11. Dezember in Berlin hatte Helmut Kohl als Parteivorsitzender ganz ausdrücklich eben nicht den Vorsitzenden der DDR-CDU, sondern des „Demokratischen Aufbruch“ (DA) eingeladen. Diese Oppositionsgruppe hatte sich im Oktober unter Beteiligung von Rainer Eppelmann konstituiert. Vor dem Hintergrund meiner persönlichen Kontakte zu Rainer Eppelmann schlug ich Helmut Kohl ein Treffen mit Eppelmann und dem DA-Vorsitzenden, Wolfgang Schnur, vor. Das Gespräch, an dem außer Kohl, Eppelmann, Schnur und mir lediglich Rudolf Seiters als Chef des Kanzleramtes teilnahm, fand am 24. November 1989 um 11.30 Uhr statt.

Nach diesem vertraulichen Gespräch fragte mich Kohl nach meinem Eindruck von den beiden Gesprächspartnern. Eppelmann kannte und schätzte ich schon länger. Helmut Kohl hatte Rainer Eppelmann zum ersten Mal am Rande des Kanzlerfestes in Berlin am 16. September 1988 kurz getroffen. Am 21. November 1989, wenige Tage vor dem oben geschilderten Gespräch mit Eppelmann und Schnur, hatte ich dem Bundeskanzler in einem Vermerk über die Bitte von Pfarrer Eppelmann um konkrete Unterstützung zur Anschaffung einer Offset- Druckmaschine für etwa 4000 DM berichtet. Er stimmte einer entsprechenden Spende zu.

Ich äußerte mich auch sehr positiv über Wolfgang Schnur. Kohl hingegen war stärker von Eppelmann beeindruckt und brachte seine Skepsis gegenüber Schnur zum Ausdruck, den er als zu übereifrig empfand. Wenige Wochen später wurde Wolfgang Schnur als Stasi-Spitzel entlarvt. Kohl konnte das nicht wissen, aber seine Menschenkenntnis hatte ihn nicht im Stich gelassen.

Beim damals sehr wichtigen – aber schon wegen der mangelhaften technischen Kommunikationsmittel schwierigen – Kontakt mit der DDR-Opposition spielte der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende der Jungen Union, Stefan Schwarz, eine zentrale Rolle. Er war vom Dezember 1989 bis zur Volkskammerwahl beim „Demokratischen Aufbruch“ in Berlin, und zwar sowohl in der Geschäftsstelle im „Haus der Demokratie“ damals auch im Anwaltsbüro des Vorsitzenden Wolfgang Schnur, das dieser in den ehemaligen Büroräumen des DDR-Anwalts Vogel bezogen hatte. In einem engen Telefonkontakt – meist zu nächtlicher Stunde – hielt er mich über die Entwicklungen beim DA auf dem Laufenden, so dass ich Helmut Kohl jeweils aus erster Hand informieren konnte.

Bei seinem Besuch in Dresden am 19. Dezember traf sich HelmutKohl mit Oppositionsvertretern zu einem längeren Gespräch.Daran nahmen Vertreter des Demokratischen Aufbruchs,die Christlich Soziale Partei Deutschlands, von Demokratie Jetzt, desNeuen Forum und der Leipziger Gruppe der 20 teil. Nicht eingeladenwaren die DDR-CDU und ihr Vorsitzender Lothar de Maiziere.

Die Entwicklung beschleunigte sich nun sehr. Am 28. Januar führten die nicht nachlassenden Übersiedlerströme aus der DDR zum Beschluss des „Runden Tischs“ zwischen Regierung und Oppositionsbewegung, die Volkskammerwahl vom 6. Mai auf den 18. März 1990 vorzuziehen. Dies erhöhte auch den Entscheidungsdruck, mit welcher Formation die bürgerliche Seite eigentlich in diesen Wahlkampf ziehen würde.

Helmut Kohl hatte inzwischen eine geplante Lateinamerika-Reise abgesagt. Er traf sich Ende Januar 1990 erstmals persönlich mit Lothar de Maiziere. Am 1. Februar brachte Kohl in Berlin erstmals die Repräsentanten von Demokratischem Aufbruch, Deutscher Soziale Union und DDR-CDU, die sich untereinander teilweise nicht persönlich kannten, zusammen. Am 5. Februar wurde das Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ besiegelt. Kohl hatte seine Unterstützung im Wahlkampf davon abhängig gemacht, dass ein solches Bündnis unter Einschluss der Bürgerrechtler zustande kommt.

Später legte Kohl großen Wert darauf, dass im Rahmen des Zusammenschlusses die CDU Deutschlands auf alle Vermögenswerte der DDR-CDU verzichtet. Dies wurde notariell beurkundet und veröffentlicht. Aus vielfältigen Erfahrungen und als Zeuge vieler Gespräche weiß ich, wie ungerecht und historisch unzutreffend der später erhobene Vorwurf ist, die CDU habe einfach die DDR-CDU vereinnahmt. Kohl hätte dies nie zugelassen

Helmut Kohl hielt im Volkskammerwahlkampf 1990 sechs große Kundgebungen für die Allianz für Deutschland ab, zu denen insgesamt mehr als eine Million Menschen kamen: Am 20. Februar in Erfurt, am 2. März in Chemnitz, am 6. März in Magdeburg, am 9. März in Rostock, am 13. März in Cottbus und am 14. März in Leipzig.

Kohl wollte ausdrücklich möglichst vielen seiner engeren Mitarbeiter ermöglichen, bei einem dieser damals von uns allen als historisch empfundenen Ereignisse dabei zu sein. Ich habe ihn am 20. Februar zur ersten Kundgebung nach Erfurt begleitet. Wir flogen um 14.55 vom Kanzleramt mit dem Hubschrauber los. Was uns erwartete, wußten wir nicht. Immerhin gab es die DDR mit all ihren Staatsorganen wie der Stasi und der Volkspolizei noch und die Macht hatte die Regierung Modrow unter der Führung der SED.

Wir landeten bei der Grenzübergangsstelle Herleshausen, um in der DDR auf der Autobahn nach Erfurt zu fahren. Als der Hubschrauber landete, sahen wir durch das Fenster eine in Reih und Glied angetretene Formationen der Volkspolizei. Als „Begleitkommando“ sollten sie uns mit Polizeifahrzeugen nach Erfurt eskortieren.

Helmut Kohl stieg aus dem Hubschrauber aus, steuerte schnurstracks auf die Volkspolizisten zu und gab ihnen zu deren völligen Überraschung einzeln die Hand. Er bat dann darum, ihn möglichst ohne großen Aufwand und Blaulicht zu geleiten. Die Volkspolizisten waren sichtlich überrascht, aber sie hielten sich an die Bitte. Ein Wagen fuhr voraus, andere Fahrzeuge blockierten auf der Autobahn hinter uns den linken Fahrstreifen, so dass wir nicht überholt werden konnten. Aber die Autobahn war sowieso praktisch leer.

Als wir uns Erfurt näherten, stellte Helmut Kohl fest, dass wir zu früh ankommen würden. Das wollte er nicht und kam auf die spontane Idee, eine kurze Kaffeepause einzulegen. Er bat den Fahrer bei der nächsten Möglichkeit einen Gasthof anzusteuern. Dies wiederum brachte die Volkspolizisten völlig aus dem Konzept. Wir bogen einfach hinter ihnen ab, als wir einen Gasthof sahen, der allerdings völlig verlassen zu sein schien.

Als wir anhielten, kam uns eine ältere Frau entgegen. Als sie Helmut Kohl erkannte, war sie völlig aufgelöst. Sie erzählte uns, dass alle ihre Verwandten nach Erfurt gefahren seien, um den Bundeskanzler dort zu erleben und jetzt stünde Helmut Kohl vor ihr. Das würde niemand glauben. Nach einer Viertelstunde und einem Kaffee brachen wir wieder auf. Es hieß, dass sich in Erfurt einige tausend Menschen versammelt hätten. Aber schon als wir uns dem Domplatz näherten, merkten wir erst die Besucherzahl wesentlich höher lag. Es waren weit über 150.000 Menschen gekommen.

Schon der Weg mit Helmut Kohl zur Rednertribüne vor dem Erfurter Dom war ein eigenes Erlebnis. Noch mehr als bei den Kohl-Veranstaltungen üblich, drängten sich die Menschen an ihn heran und wollten ihm die Hand schütteln. Der Jubel und die „Helmut-Helmut“-Sprechchören wollten kein Ende nehmen.

Kurz vor der Kundgebung hatten uns erste Nachrichten über die Stasi-Verstrickungen des Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruch, Wolfgang Schnur, erreicht. Nach der Kundgebung, die um 17:00 Uhr begann, traf sich Helmut Kohl noch mit den Vorsitzenden der Parteien der Allianz für Deutschland im Weinhaus „Zur Hohen Lilie“, das direkt neben dem Domplatz lag. Der Trubel war sehr groß und wir hatten alle Hände voll zu tun, sicherzustellen, dass die Besprechung nicht ständig gestört wurde.

Vor allem hatten sich vor dem Hotel viele tausend Menschen versammelt und hörten nicht auf, „Helmut-Helmut“ zu rufen. Obwohl Kohl zunächst zögerte – er war sich wohl bewußt, dass sein Verhalten von den Staatsorganen der DDR sehr genau beobachtet wurde –, konnten wir ihn überreden ans Fenster zu treten. Der Jubel war unbeschreiblich.

Auch Helmut Kohl hat nicht mit einem derart überwältigenden Sieg der Allianz für Deutschland bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 gerechnet. Noch am 12. März 1990 veröffentlichte das Münchner Institut Infratest eine Umfrage, die die SPD bei 44% und die Allianz für Deutschland bei 26% sah.

Die Allianz für Deutschland erreichte aber sensationelle 48% der Stimmen, obwohl dem DA-Vorsitzenden Wolfgang Schnur nur drei Tage vor der Wahl die inoffizielle Stasi-Mitarbeit endgültig nachgewiesen worden war. Die SPD kam lediglich auf 22% der Stimmen. Ihr damaliger Vorsitzender Ibrahim Böhme wurde nach der Wahl als inoffi zieller Stasi-Mitarbeiter enttarnt.

Die Enttäuschung des linken politischen Lagers in der Bundesrepublik über das Ergebnis der Volkskammerwahl war groß. Otto Schily, im November 1989 von den GRÜNEN zur SPD gewechselt, kommentierte das Wahlergebnis damals, in dem er eine Banane in die Fernsehkameras hielt. Dazu sagte der spätere SPD-Fraktionsvorsitzende in der Volkskammer, Richard Schröder: „Schilys Banane ... hatte für uns keinen kritischen Sinn, sondern einen zynischen Sinn: Die Ossis sind so blöd, die haben „Banane“ gewählt. ... Wohlstand kann der leicht verachten, der ihn hat.“ Helmut Kohl hat sich über Schilys Verhalten sehr empört und ließ seinem Ärger darüber freien Lauf.

Die bisherige DDR-Staatspartei SED hatte bei der Volkskammerwahl übrigens nur 16,4% erhalten. Ihr letzter Vorsitzender wurde beim SED-Parteitag am 8./9. Dezember 1989 Gregor Gysi. Er sagte damals in seiner Parteitagsrede: „Die Auflösung der Partei und ihre Neugründung wäre meines Erachtens eine Katastrophe für die Partei.“ Am 16. Dezember 1989 benannte sich die SED in „SED/PDS“ um, am 4. Februar 1990 strich sie den Zusatz „SED“ und nannte sich rechtzeitig vor der Wahl nur noch „PDS“.

Übrigens hat die von der frei gewählten Volkskammer eingesetzte „Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ festgestellt, dass die SED/PDS ein Gesamtvermögen von mindestens 1,16 Milliarden DM besaß. Im Abschlussbericht der Kommission, die bis 2006 arbeitete wird darauf hingewiesen, dass der Verbleib „von erheblichen Guthaben in dreistelliger Millionenhöhe“, das die SED 1989/1990 ins Ausland verschoben ha, nicht zu ermitteln war. Auch dazu schweigt der letzte SED-Vorsitzende Gregor Gysi bis heute. Aber das Ergebnis der Volkskammerwahl am 18. März 1990 hatte nicht nur das Ende der SED, sondern auch der DDR besiegelt.

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