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Entnommen aus
GESCHICHTSBEWUSST
DAS PUBLIC-HISTORY-PORTAL DER KONRAD-ADENAUER-STIFTUNG
https://www.kas.de/de/web/geschichtsbewusst
Prof. Dr. Michael Wolffsohn
Sie verstehen einander nicht
Die „Bewältigung“ der Vergangenheit trennt Opfer und Täter.
Nach dem Holocaust wechselten Deutsche und Juden die Positionen. Weil beide Seiten die für sich "richtigen" Schlussfolgerungen aus der Geschichte gezogen haben, mangelt es ihnen heute am gegenseitigen Verständnis.
Was ist Zeit und Raum übergreifend das Grundfaktum jüdischen Seins und Daseins, individuell ebenso wie kollektiv? Es ist eine „Existenz auf Widerruf“ (Georg-Arthur Goldschmidt), wobei der Widerruf von draußen in und auf die jüdische Welt ertönt. Dieses jüdische Seinsprinzip festzustellen ist keine Hysterie, sondern Empirie. Schon vor Jahrhunderten wurde es zum Beispiel in der Haggada, der Quasi-Fibel zum häuslichen Pessachabend, formuliert. Kurz, knapp, klar und illusionslos: „nicht nur einmal hat man versucht, uns (Juden) zu vernichten. In jeder Generation wird es immer wieder versucht.“ Ja, jenes Faktum wird hier fiktional überdimensioniert, denn nicht überall oder in jeder Generation wurde und wird versucht, Juden zu vernichten, aber die diesbezügliche Empfindlichkeit, Achtsamkeit, Angst und Vorsicht von Juden ist keine von ihnen ausgehende Aktion, sondern Reaktion auf Realitäten. „Jeder Jude weiß von Kindheit an, dass sein Status nur auf Widerruf besteht, dass man ihn früher oder später jagen, verhöhnen, schlagen oder sogar töten kann. Und er weiß, dass das schon immer so war.“ (Georg-Arthur Goldschmidt, Als Freud das Meer sah. Zürich 1999, S. 155).
Wer Juden, individuell oder kollektiv, für neurotisch und paranoisch hält (es soll ja solche geben…), erinnere sich diagnostisch daran, dass diese Nervenkrankheit oder dieser Verfolgungswahn reaktiver „Wahnsinn“ ist. Therapeutisch kann dieser reaktive Wahn nur doppelgleisig behandelt werden: durch eine Therapie der Agierenden und Reagierenden, also der nichtjüdischen Agierenden und der jüdischen Reagierenden, jeweils individuell und kollektiv.
Sowohl Haggada als auch Goldschmidt beziehen sich auf die jüdische Diasporaexistenz. Seit 1948 gibt es eine geografische Alternative, die zugleich eine existenzielle ist: Israel. Anders als in knapp 2000 Jahren, zwischen 70 n. Chr. (Zerstörung des Zweiten Tempels) und Israels Staatsgründung 1948, müssen Juden nicht mehr um ihr Da- und Dortsein betteln. Wenn da oder dort die Existenz von Juden widerrufen wird, benötigen sie nicht mehr die jederzeit widerrufbare Gnade auf Zeit von Seiten aufnahmebereiter Staaten. Seit 1949 ist in Israel zum einen das nackte Überleben von Juden gesichert - so schien es jedenfalls bis zum 7. Oktober 2023 zu sein. Zum anderen kann sich ihre Lebensqualität in Israel durchaus mit der in Westeuropa oder den USA vergleichen.
Somit ist Antisemitismus erstmals seit knapp 2000 Jahren eher ein Problem für Nichtjuden, denn sie verlieren loyale, friedliche, einsatzfreudige, meist bestens ausgebildete sowie das jeweilige Gemeinwesen materiell und ideell bereichernde Bürger. Der Verlust der „Gastländer“ ist Israels Gewinn.
Doch in der bisherigen politischen Wirklichkeit ist jüdisches Sein und Dasein in Nahost eine Existenz auf Widerruf. Anders als in der Diaspora, aber eben letztlich auch auf Widerruf.
Geschichte als Falle
„Wie alle anderen Völker“ („kechol hagojim“) sein – dem traditionellen Judentum, auch in seiner universalistischen Ausprägung, ist das seit jeher unerwünscht. Nicht zuletzt die religiösen Ge- und Verbote haben die Abgrenzung ermöglicht. Mal defensiv nach dem Motto „Lasst uns einfach in Ruhe“ oder „Leben und Leben lassen“, mal offensiv im Sinne von „Wir sind auserwählt“. Auserwählung zwar als Last, doch zugleich als Auszeichnung und quasi religiöser Ritterschlag. Hiervon gibt es, ohne Religion, eine weltliche Variante: den bornierten, dünkelhaften Israelismus. Dieser ist nicht mit „den“ national stolzen, doch entspannt und pragmatisch national gesinnten Israelis zu verwechseln. Diese nationalisraelische Entspannung ist eine direkte Folge des bereits frühzionistischen Willens. Dessen Ziel: „Wie alle anderen Völker“ sein. Erst dann seien „die“ Juden „normal“. Die Varianten dokumentieren die Bandbreite des Judentums in Israel ebenso wie in der Diaspora; die Bandbreite und zugleich die diasporajüdische und innerisraelische Polarisierung.
Jenseits aller, manchmal scharfen Trennlinien gibt es gesamtjüdische Gemeinsamkeiten. Nicht aller Juden, sondern der meisten. Es sind „Lehren aus der Geschichte“, allgemein aus der jüdischen und im Besonderen aus dem sechsmillionenfachen Judenmorden. Und ebendiese fundamental unterschiedlichen Lehren bzw. Schlussfolgerungen trennen Juden und Nichtjuden (besonders der westlichen Welt und hier in erster Linie der deutschen). Zuvor waren Juden und Nichtjuden, Juden und Deutsche auf einer Strecke von A nach B so weit voneinander entfernt: Nichtjuden bei A, am linken Ende der Strecke, Juden bei B, am rechten Ende der Strecke. Nach dem Holocaust wechselten sie die Positionen. Nun stehen die Juden auf A und die Nichtjuden auf B. Damals waren sie „so weit“ voneinander entfernt. Heute sind sie „so weit“ voneinander entfernt. Nur ein Seitenwechsel fand statt, und genau deswegen kommen beide so wenig wie vorher wirklich zueinander.
„Sie konnten beisammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief“ Nicht die Königskinder, aber Juden und Nichtjuden heute. Und morgen?
Als (soweit ich sehe) Erster habe ich das „tiefe Wasser“ bzw. jene Trennlinie durch zwei Sätze zusammengefasst, die seitdem oft der Öffentlichkeit auch von vielen anderen vorgetragen wurden.
Satz 1: „Die“ Mehrheit „der“ Juden hat aus der Geschichte gelernt „Nie wieder Opfer!“
Satz 2: „Die“ Mehrheit „der“ Nichtjuden, besonders der Deutschen, hat aus derselben Geschichte gelernt „Nie wieder Täter!“
Wir fokussieren uns im Folgenden auf „die“ Deutschen.
Vier Themenbereiche machen den Wassergraben, die Entfernung zwischen Juden und Deutschen besonders sichtbar. Vereinfacht, aber trotz der Vereinfachung zutreffend, denke ich.
1. Gewalt als legitimes Mittel der Politik
„Die“ Juden haben aus der Geschichte gelernt: Gewalt ist ein legitimes und notwendiges, ja manchmal unverzichtbares Mittel, um überleben zu können.
„Die“ Deutschen haben aus derselben Geschichte gelernt: Gewalt ist als Mittel der Außen- und Innenpolitik prinzipiell illegitim, denn sie vernichtet Leben. Jedenfalls galt diese strukturpazifistische Lehre bis zum 24. Februar 2022, also bis zum Überfall von Putins Russland auf die Ukraine. Ob das seit jener Aggression neu verkündete Umlernen mit dem Ziel „Frieden durch Abschreckung“ neue Lehre wird, bleibt abzuwarten. Wenn ja, kann die jüdisch-israelische „Nie wieder Opfer“-Weltsicht mit mehr europäischem Verständnis rechnen.
2. Religion als Faktor der Politik
Auch „die“ weltlichen, nichtreligiösen Juden haben gelernt. Weil wir einen jüdischen Staat als Rettungsanker „für den Fall der Fälle“ brauchen und wollen, können wir Religion und Religiöse nicht verprellen. Das müssen wir zähneknirschend akzeptieren. Orthodoxe Juden haben mit dem Jüdischen Staat ein anderes Problem: es bedarf göttlicher Zustimmung, der Erlösung durch das Kommen des Messias. Sie warten. Die nicht ganz so Religiösen warten nicht und sagen: Man könne den „Beginn der Erlösung“ beschleunigen und müsse den jüdischen Staat jüdischer, im Sinne von „religiöser“ gestalten.
„Die“ Deutschen halten in ihrer großen Mehrheit die Verbindung von Religion und Politik für fatal. Selbst in der CSU gibt es keinen ultramontanen Hundhammer-Flügel mehr, wie in der Frühzeit der Bundesrepublik. Auf die Trennung von Staat und Kirche wird größten Wert gelegt.
3. Das gesellschaftliche Gewicht von Volk, Staat und Nation
„Am Israel“, „Volk Israel“, geht den meisten Juden locker über die Lippen, denn „Volk Israel“ war Opfer „der“ Völker, nicht Täter – als Kollektiv, also auf der Makroebene.
Wer heute vom „deutschen Volk“ spricht, weckt zumindest den Verdacht, mit Rechtsextremen zu sympathisieren.
Der Staat, bzw. dessen Spitze sowie die staatlichen Organe sehen „die“ Juden traditionell und erst recht in Israel - selbst bei heftigster Opposition gegen Politiker A oder B oder C – als Beschützer.
Den Staat sehen „die“ Deutschen als ständige potenzielle Bedrohung.
Nation ist für „die“ Juden pragmatisch und dem Wortursprung gemäß die Gemeinschaft, in die man hineingeboren wird. Lateinisch „natus sum“ = „ich bin geboren“. Geboren also in die Nation X oder Y oder Z.
4. Land bzw. Territorium als politischer Faktor
Wenn Juden und erst recht Israeli von „Eretz Israel“ („Land Israel“) sprechen, vibrieren sie innerlich vor Erregung.
Wenn Deutsche über Deutschland als „Land der Deutschen“ sprechen, lösen sie bestenfalls Stirnrunzeln aus und geraten eher unter Rechtsextremismus- und Fremdenfeindlichkeitsverdacht.
Fazit: Gerade das Nichtvergessen, die „Bewältigung“ der Vergangenheit der Opfer und Täter trennt die Nachfahren und verbindet sie nicht, denn sie verstehen einander nicht. Tragisch, aber wahr, sie können einander nicht verstehen, weil jede Seite die für sich selbst richtigen Schlussfolgerungen gezogen hat. Operation gelungen, Patient gestorben – Vergangenheit bewältigt, von und in der Tagespolitik bzw. Gegenwart überwältigt und einander nicht verstehend. Geschichte wurde zur Falle. Für die Zukunft verheißt das wenig Gutes.
Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist. Von 1981 bis 2012 lehrte er Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München.
Dieser Essay beruht auf Auszügen aus Michael Wolffsohn: Eine andere jüdische Weltgeschichte. Freiburg im Breisgau 2022. Die Online-Publikation erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Herder-Verlags.
Die Presse zum Buch:
"unbedingt lesenswert" + "verfasst von einem Mann mit genauem Blick in die Kulissen der Macht" + "ausgewogen" + "anschaulich" + "persönlich, direkt, ganz nah dran" + "schildert Kohls Charakter-züge" + "spannende Hinter-gründe" + "keine undifferen-zierte Schwärmerei"
Ausführliche Pressestimmen zum Buch finden Sie hier
die Grünen und die von ihnen geführte Verwaltung, um die Einspurigkeit auf der Adenauerallee durchzusetzen. So wurde gegenüber Rat und Öffentlichkeit fälschlicherweise behauptet, es gebe rechtliche Vorschriften, die die Einspurigkeit der Adenauerallee erzwingen würden. Tatsächliche gibt es diesen rechtlichen Zwang nicht, sondern es geht um eine politische Entscheidung.