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BÜRGERBETEILIGUNG IM INTERNET

27. November 2012
ist in aller Munde: Aber neben der Stärkung der Informations- und Meinungsfreiheit gibt es im Cyberspace auch besondere Demokratie-anforderungen. Daraus ergeben sich zwölf Leitplanken für eine demokratische Kultur bei der Bürgerbeteiligung im Netz.
BÜRGERBETEILIGUNG IM INTERNET

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Stephan Eisel

Bürgerbeteiligung im Internet

Zwölf Leitplanken für eine demokratische Kultur

Die Demokratie des Grundgesetzes ermöglicht, fordert und fördert das Engagement der Bürger und ihre Teilhabe am politischen Entscheidungsprozess weit über die Teilnahme an Wahlen hinaus. Dieses Beteiligungsangebot reicht von der gesetzlich vorgeschriebenen Bürgerbeteiligung im Planungsrecht über die Einladung zum Engagement in Verbänden, Parteien und Bürgerinitiativen bis hin zu der Teilnahme am öffentlichen Diskurs bei Bürgerversammlungen, mit Petitionen, Leserbriefen und Unterschriftensammlungen oder der Wahrnahme des Demonstrationsrechts. 

Dass Bürger mit ihrer Meinung und ihrem Sachverstand die Vorschläge staatlicher Insti­tutionen und Entscheidungen demokratischer Gremien auf den Prüfstand stellt, ist ein demokratisches Grundrecht. Im Verständnis des Grundgesetzes leitet sich daraus aber kein Politikzwang ab. Es muss auch die Freiheit geben, sich mit  etwas nicht inten­siv befassen zu wollen.  Deshalb eröffnet unsere freiheitliche Demokratie den Bürgern das Recht zur Delegation ihrer Mitwirkungsrechte auf die gewählten Volksvertreter. So ergänzen und bedingen Bürgerbeteiligung und parlamentarische Entschei­dungsfindung einander. 

Das Internet bietet auf dieser Grundlage neue Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung. Insbesondere erleichtert es vielen Bürgern Zugang zu Informationen und bietet der freien Meinungsäußerung neue Foren. Es bietet damit auch den gewählten Mandatsträgern die Möglichkeit, ihre Entscheidungen auf der Grundlage einer breiteren Meinungs- und Faktenbasis zu treffen. Diese Stärkung der Informations- und Meinungsfreiheit ist auch eine Stärkung der Demokratie insgesamt.  

Aber das Internet ist kein Erlösungsmedium, das per se demokratischen Ansprüchen genügt. Es ersetzt andere Formen der Bür­gerbeteiligung nicht, sondern ergänzt sie. Wie andere Medien bietet das Internet eigene Chancen, birgt aber auch spezifische Gefahren. Auch Bürgerbeteiligung durch das und im Internet muss demokratischen Maßstäben gerecht werden. Dabei ergeben sich aus den folgenden Einsichten in die spezifischen Charakteristika des Cyberspace Leitplanken für eine demokratische Kultur der Bürgerbeteiligung im Internet: 

  1. Wer die Chancen des Internets für Bürgerbeteiligung sinnvoll nutzen will, muss die Grenzen des Netzes ebenso kennen wie seine Möglichkeiten. Nur eine sachliche und nüchterne Betrachtung verhindert Irrwege im Cyberspace. Die Faszination über die techni­schen Möglichkeiten des Internets entbindet nicht von der Frage nach den Chancen und Gefahren für die Demokratie. Zur Technikfaszination muss Medienkompetenz kommen und in einer freiheitlichen Gesellschaft zur Medienkompetenz zwingend die Demokratiekompetenz. 
  2. Angesichts der begrenzten Reichweite des Internets darf demokratisches Handeln keine Ausschließlichkeit der digitalen Welt zulassen. Freiheitliche Demo­kratie muss allen Bürgern den allgemeinen, unmittelbaren und gleichen Zugang zur politi­schen Arena garantieren. Diese gleichen Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten für alle kann das Internet (bisher?) nicht bieten. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes verfügt ein Vier­tel der deutschen Haushalte nicht über einen Internetanschluss. Jährliche Untersuchungen wie die ARD/ZDF-Onlinestudie oder der (N)onliner-Atlas haben erst jüngst erneut ermittelt, dass ein Viertel der deutschsprachigen Bevölkerung über 14 Jahre keinen Internetzugang hat. Insgesamt nutzen also immerhin 17 Millionen Bürger über 14 Jahre in Deutschland das Internet überhaupt nicht. Mit seiner begrenzten Reichweite unterscheidet sich das Internet aslo prinzipiell nicht von anderen Medien - auch wenn immer wieder der Eindruck erweckt wird, das Internet könne solche Grenzen überwin­den. 
  3. Wer einen Internetzugang hat, bewegt sich deswegen noch keineswegs regelmäßig und routiniert im Netz. Als „Onliner“ gilt in allen Statistiken schon, wer das Internet innerhalb der letzten vier Wo­chen nur einmal genutzt hat. Die ARD/ZDF-Onlinestudie 2012 betont, „dass die bloße Verfügbarkeit  des Internets nicht automatisch zu einer routinierten und habitualisierten In­ternetnutzung führt…43 Prozent aller deutschen Internetnutzer gehören entweder der Grup­pe der Randnutzer (25 %) oder der Selektivnutzer (18 %) an. … Kennzeichnend für diese beiden Gruppen ist, dass sie das Internet noch nicht in ihren Medienalltag integriert haben und sich ihre Nachfrage auf wenige bekannte Angebote und Funktionen beschränkt.“ Bezo­gen auf die Gesamtbevölkerung unterstreicht der (N)ONLINER Atlas 2012: „Nur 38 Pro­zent der Bürgerinnen und Bürger sind bereits in der digitalen Alltagswelt angekommen.“  Demokratie würde sich deshalb selbst ad absurdum führen, wenn sie „Netzbürgern“ mehr Bedeutung zumisst als denen, die das Medium nicht nutzen können oder wollen. 
  4. Im Unterschied zu Fernsehen und Radio ist das Internet kein Konsummedium, son­dern ein Aktivitätsmedium mit der Folge struktureller Ungleichheiten. Das Internet ist im Kern kein niedrigschwelliges, sondern ein forderndes Angebot. Es privilegiert die „Zeitreichen“. Dazu gehören vor allem diejenigen, denen als „Bildschirmarbeiter“ auch am Arbeitsplatz ein ständiger Netzzu­gang zur Verfügung steht. Wer seinen Alltag in der „Bürowelt“ verbringt, hat es in der Inter­netwelt leichter als jemand, der im Handwerk, dem produzierenden Gewerbe oder dem Dienstleistungssektor arbeitet. Bei der politischen Teilhabe im Internet gibt es keine Chan­cengerechtigkeit zwischen dem Bauarbeiter und dem Bürokaufmann. Die eigentliche struk­turelle digitale Spaltung verläuft zwischen denen, für die beim Internetzugang Arbeits- und Freizeit keinen Unterschied macht, und denen, die im begrenzten Zeitbudget ihrer Freizeit die Wichtigkeit der Nutzung des Internet für sich abwägen müssen. 
  5. Der Cyberspace ist für seine Bewohner um ein Vielfaches mehr der Markt- und Spielplatz als er ein Politikfo­rum ist.  Das Internet ist nicht zu politischen Zwecken erfunden, erprobt und entwickelt worden und wird auch nur von einer kleinen Minderheit dazu genutzt. Der Anteil politischer Webseiten liegt im deutschsprachigen Netz unter einem Prozent. Die Zugriffsraten auf das politische Ange­bot sind zudem deutlich unterdurchschnittlich. Die freiheitliche Demokratie zählt zwar auf das politische  Engagement der Bürger für ihre Gesellschaft, räumt ihnen aber ausdrücklich auch das Recht ein, unpolitisch zu sein. Davon wird nicht nur außerhalb sondern auch innerhalb des Netzes reichlich Gebrauch gemacht.
  6. Das Internet weckt kein neues Politikinteresse, sondern ist ein zusätzliches Forum für Politikinteressierte. Meist diskutieren politisch Interessierte und Aktive über Politik im Netz. Sie neigen dazu, die Rolle von Politik im Internet zu überschätzen. Dass sich politikaffine Menschen im Internet leichter begegnen und vernetzen können, sollte sie nicht zur Fehlannahme verleiten, es gebe durch das Internet ein höheres Politikinteresse. Zu den Mythen, die das Internet umgeben, gehört aber die Annahme, dass es dem neuen Medium gelingen könnte, mehr Bürger für Politik zu inter­essieren und am politischen Prozess zu beteiligen. Diese „Mobilisierungsthese“ ist aber längst widerlegt. Bewahrheitet hat sich die „Verstärkungsthese“, d.h. das Internet bietet vor allem den auch außerhalb des Netzes schon Politikinteressierten ein zusätzliches und neues Forum. 
  7. Das Internet bietet keinen einheitlichen Kommunikationsraum, sondern entgrenzt die­sen ebenso wie es zugleich in fragmentierte Echogesellschaften zerfällt. Freiheitliche De­mokratie ist im Blick auf Gemeinwohlorientierung und friedliche Konfliktregelung darauf angewiesen, dass unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft in überschaubarem Rahmen offen miteinander kommunizie­ren. Das Internet privatisiert den öffentlichen Raum aber ebenso wie es ihn globalisiert. In bei­dem liegt eine Gefahr: Die für demokratische Entscheidungsprozesse essentielle Meinungs­bildung durch offene Debatten wird ebenso bedroht, wenn geschlossene Individualkommu­nikation die Transparenz kommunikationsoffener Meinungsbildung ersetzt, wie wenn durch die völlige Entgrenzung des Kommunikationsraumes der Ort der Entscheidungsfindung ver­loren geht. Entgegen der gerne propagierten Selbstwahrnehmung animiert das Internet mindestens ebenso sehr zum Tunnelblick im Kreise Gleichgesinnter wie es in seiner Grenzenlosigkeit dem überschaubaren öffentlichen Raum die integrierende Wirkung nimmt. Online sind auch deshalb Radikalisierungen in Form und Inhalt weiter verbreitet als Offline.  
  8. Schnelligkeit als höchstes Gut im Cyberspace ist kein Ausweis von Demokratiesteige­rung. Ihr wohnt die große Gefahr der Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit inne. Im Internet ist der schnelle Klick die gültige Währung, Politik erscheint demgegenüber träge und lang­sam. Der Geschwindigkeitsdruck im Internet begünstig eine Atmosphäre sich schnell wan­delnder Stimmungen, Emotionen und Skandalisierungen. Im Gegenteil dazu zeichnen sich stabile Demokratien dadurch aus, dass sie der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ihre Reifezeit geben. Im Internet haben aber Zeit für sachliche Reflektion, integrierende Kommunikation und entscheidungsbezogene Gelassenheit selten eine Chance.
  9. Transparent und seriös ist etwas nicht schon allein deswegen, weil es im Netz steht. Oft herrscht eine naive Netzgläubigkeit vor: schon die Verfügbarkeit von Daten im Internet  garantiere deren Seriosität.  Der leichte Informationszugang und die enorme Informationsfülle verstellen zu oft den kritischen Blick auf den tatsächlichen Informationsgehalt. So werden Angaben von Wikipedia meist völlig unreflektiert übernommen, staatliche Informationen schon wegen ihrer Verfügbarkeit im Netz für vollständig gehal­ten und bei kommerzielle Angeboten das Kleingedruckte besonders selten gelesen. Bei – per se wünschenswerten – Veröffentlichungen im Internet ist aber die gleiche Quellenkritik notwendig wie in der Offline-Welt: Sind die Informationen seriös, verbergen sich hinter ihrer Auswahl und Darstellung bestimmte Interessen oder wird Entscheidendes in der Fülle des Materials versteckt? 
  10. Weil die im Internet unbegrenzte Informationsfülle oft mit Wissen verwechselt wird, ist im Netz reflektiertes Urteilsvermögen besonders gefragt. Datenfülle führt nicht per se zur Kenntnistiefe. Ohne Zweifel kann die Fülle der Informationen aus dem Internet auch Wissen und Erkenntnis vergrößern. Doch die Voraussetzung dafür ist jenes Urteilsvermögen, das sich in seiner komplexen Zusammensetzung aus spezifischen Bedeutungen und intelligenten Bewertungen gerade nicht auf ein Datensammelsurium reduzieren lässt. Je größer die Informationsfülle im Internet ist, umso mühevoller und zeit­raubender  ist der verantwortliche Gebrauch des Netzes, der die Unterscheidung zwischen Datenmüll und qualitativer Information erst ermöglicht. Je umfassender und spezialisierter das Informationsangebot im Internet ist, umso mehr kommt es für die sinnvolle Nutzung auf fundierte Allgemeinbildung an. 
  11. Anonymität im Internet lockert den für die Demokratie unabdingbaren Zusammen­hang von Freiheit und Verantwortung. Aus dem Schutz der Anonymität  kommt es im In­ternet schneller als in der Offline-Welt zu persönlichen Verunglimpfungen und Verletzungen des Persönlichkeitsschutzes. Nirgends entstehen so schnell Gerüchte und werden so schnell verbreitet wie im Internet. Dies ist auch einem oberflächlichen Spieltrieb geschuldet, der in der Weitergabe einer im Netz gefundenen Nachricht einen von deren Inhalt oder Seriosität unabhängigen Selbstzweck sieht. Wer zur Verbreitung beiträgt, sieht sich im Internet selten verantwortlich für den Inhalt des Weitergegebenen. Wer den Anderen persönlich attackiert, ist meist nicht mit den persönlichen Folgen konfrontiert. Die Ernsthaftigkeit der Über­nahme von Verantwortung für eigenes Tun im Internet wird allzu leicht dem spielerischen „Anything goes“ der Netzwelt geopfert. 
  12. So sehr das Internet die Meinungs- und Informationsfreiheit befördert, so wenig eignet es sich als Ort für Abstimmungen und Wahlen. Das Internet ist außerordentlich manipulationsan­fällig und schließt erhebliche Bevölkerungsgruppen aus. Wo es als Abstimmungstool genutzt wird, zeigt sich zugleich die Relativität seiner Relevanz. So ist Internetabstimmungen durch­gängig eine extrem niedrige Beteiligungen gemeinsam: Trotz niedrigster Zugangsschwelle durch einfache e-mail-Registrierung  haben sich z. B. an den  sog. Online-Bürger­haushalten meistens weniger als ein Prozent und nie mehr als fünf Prozent der dazu Berechtigten beteiligt. Beim Adhocracy-Angebot der Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages haben sich auch nach fast zwei Jah­ren bundesweit (!) lediglich 3165 Mitglieder (Stand 23. November 2012) registriert, obwohl auch hier zur Anmeldung lediglich eine e-mail-Adresse genügte. Selbst bei den Piraten, die sich über den Umgang mit dem Internet definieren und die kontinuierliche Meinungsbildung und Entscheidungsfindung im Netz als eine ihrer zentralen Forderungen propagieren, stößt die parteiinterne Abstimmungsplattform „Liquid Feedback“ nur auf sehr begrenztes Interesse. Dort haben sich von 34.191 Parteimitgliedern überhaupt nur 11.041 registriert (Stand  jeweils 23. November 2012).  An den Einzelabstimmungen beteiligen sich meistens nur einige dutzend, manchmal einige hundert und selten höchstens tausend Mitglieder, also nur ein harter Kern von weniger als fünf Prozent der Gesamtmitgliedschaft.

Wer diese Einsichten über die Eigenarten der Online-Welt ignoriert, lässt „Bürgerbeteiligung im Internet“ zu einem potemkinschen Dorf verkommen, in dem privilegierte kleine Internet-Eliten auf Kosten der großen Mehrheit der Bürger agieren.  

Als Benjamin Franklin im Sommer 1787 in Philadelphia als Mitglied des amerikanischen Verfassungskonvents nach Abschluss der Beratungen von einem Passanten gefragt wurde: „What have you given us?“ antwortete er mit Hinweis auf die Verantwortung jedes Einzelnen: „A Republic, if you can keep it.“ Bezogen auf das Internet und seine Chancen für mehr Bürgerbeteiligung könnte man heute hinzufügen: „Democracy – if you can use it.“

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