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BEI HELMUT KOHL WUSSTE MAN, WORAN

17. Juni 2017
man ist. Er hatte einen klaren Wertekompaß. Wolfgang Schäuble hat es in einem bemerkenswerten Nachruf so ausgedrückt: "Die Bundesrepublik hat mit ihren Kanzlern zumeist Glück gehabt. Manche mussten sich erst korrigieren, um bedeutend zu werden. Helmut Kohl war es vom Anfang bis zum Ende."

 

Den Nachruf von Wolfgang Schäuble auf Helmut Kohl können Sie hier ausdrucken.

(Weiter unten finden Sie den Nachruf von Stephan Eisel auf Helmut Kohl im General-Anzeiger Bonn am 17.6.2017)

Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.6.2017

Wolfgang Schäuble

Helmut Kohl: Ein Leben für Deutschland in Europa

Die Bundesrepublik hat mit ihren Kanzlern zumeist Glück gehabt. Ganz gewiss gilt das für Helmut Kohl. Seine Politik war maßvoll, integrierend, vertrauenswürdig und berechenbar. Unser Land ist über die fast zwei Jahrzehnte seiner Kanzlerschaft gut damit gefahren. Der Kanzler der Einheit – man muss versuchen, das inzwischen arg Formelhafte dieser Wendung wieder abzustreifen: Helmut Kohl war es in mehr als einem Sinne. Das Vertrauen in seine Person und in unser Land, das er in den Jahren vor 1989 in der Welt gewonnen hatte, hat die Wiedervereinigung erst möglich gemacht.

Im Fall der Vereinigten Staaten von Amerika war Helmut Kohls Verhältnis nicht erst zu  George H.W. Bush sehr vertrauensvoll, sondern bereits zu Ronald Reagan. Wir haben uns im November 2015, als Helmut Schmidt starb, mit Respekt neben anderem auch an die Standhaftigkeit erinnert, mit der dieser gegen starke Widerstände am Nato-Doppelbeschluss festhielt, der schließlich zum Niedergang der Sowjetunion beitrug. Kohl hat diese Entscheidung von Schmidt geerbt, und er hat sie genauso unbeirrt durchgetragen. Ich erinnere mich an einen Hubschrauberflug mit Helmut Kohl im Oktober 1983 über die 500000 Demonstranten auf der Bonner Hofgartenwiese. Ich weiß noch, wie klar mir damals war, dass ich in dieser Situation nicht in der Haut des Kanzlers stecken wollte. Der Nachrüstungsbeschluss hat die folgende Entwicklung hin zur Lage des Jahres 1989 sicherlich beschleunigt.

Die Chance zur Deutschen Einheit, die sich dann ergab, hat Helmut Kohl so feinfühlig wie behutsam ergriffen und genutzt. Er tat keinen Schritt zu viel. Er hat sehr darauf geachtet, dass das politische Tempo niemanden überforderte – ohne dabei den historischen Moment zu verpassen. Er hat die französische Unterstützung der Wiedervereinigung erreicht, obwohl Francois Mitterand – so wenig wie Margaret Thatcher – ein glühender Anhänger der Deutschen Einheit war. Auf dem berühmten Spaziergang Anfang Januar 1990 am Atlantik bei Mitterrands Privathaus hat Helmut Kohl das Vertrauen des französischen Präsidenten in die europäische Verträglichkeit der deutschen Wünsche und Pläne gewonnen.

Auch die folgende Geschichte ist verbürgt: Bei einer Lagebesprechung im Weißen Haus berichtete der Pressesprecher Ende November 1989, der deutsche Bundeskanzler habe einen Plan zur Wiedervereinigung vorgelegt – den 10-Punkte-Plan –, und fragte, wie er das kommentieren solle. „Nun“, fragte Präsident Bush zurück, „kennen wir den Plan?“ „Nein“, hieß es – der Plan lag dem Weißen Haus zwar vor, war aber offenbar noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Dann antwortete Bush: „Sagen Sie einfach, wir vertrauen dem Bundeskanzler.“ Dass Kohl es im Benehmen mit Bush geschafft hat, das vereinte Deutschland in der NATO zu halten, die Westbindung unseres Landes zu erhalten, ist ein weiteres Meisterstück gewesen.

Die Chance zur Einheit ist in noch einer Hinsicht Folge auch der Politik Helmut Kohls. Die Deutschlandpolitik seiner Regierung in den achtziger Jahren hat zur Destabilisierung der DDR und damit auch zur Entwicklung des Jahres 1989 beigetragen. Die Mauer durchlässig machen, möglichst viele Verbindungen schaffen, Beziehungen herstellen und aufrechterhalten, damit die Menschen einander begegnen konnten, und das alles gegen wirtschaftliche Beziehungen tauschen – das war die Strategie, für die ich damals als Chef des Kanzleramtes zuständig war. Wir haben mit dem Honecker-Regime eine Ausweitung des Besucherverkehrs in einem Ausmaß erreicht, das für die DDR fast lebensbedrohlich wurde. Die Reisen in den Westen steigerten die Unzufriedenheit der DDR-Bürger mit ihrem Regime. Über sechs Millionen Menschen kamen jedes Jahr in die Bundesrepublik – das war für die DDR alles andere als systemerhaltend.

All das hatte auch wieder mit dem Aufbau von Vertrauen zu tun – in diesem Fall bei der DDR-Bevölkerung: Im Umfeld der Beerdigung des sowjetischen Staatschefs Tschernenko im März 1985 in Moskau hatte Kohl mit Honecker die Weichen gestellt für den Reiseverkehr ab 1986. Die begeisterte und begeisternde Atmosphäre um die Rede Kohls am 19. Dezember 1989 in Dresden besaß eine Vorgeschichte in diesem Aufbau von Vertrauen in den Jahren zuvor.

Der Euro war nicht der Preis für die Einheit

Die Deutsche Einheit konnte auch deshalb Wirklichkeit werden, weil sie vom Europapolitiker Helmut Kohl vorangetrieben wurde. Ohne sein gutes Verhältnis zur Europäischen Kommission in den achtziger Jahren, ohne seine enge Zusammenarbeit mit deren Chef Jacques Delors wäre die Aufnahme der DDR in die EU, um die es sich ja im Grunde gehandelt hat, so nicht möglich gewesen. Aber die Kommission hat die historische Entwicklung dann engagiert mitgestaltet.

Helmut Kohl war in Europa eine ausgleichende, verbindende Kraft. Stets hat er – seit 1998 Ehrenbürger Europas – gerade auch die kleineren EU-Länder berücksichtigt und eingebunden und sich in der Verantwortung gesehen, ihre Rolle und Bedeutung genauso wie die der größeren Länder zur Geltung zu bringen. Wenn Europa Einheit in der Verschiedenheit ist, dann hätte es so viel Einheit in der Verschiedenheit in den achtziger und neunziger Jahren ohne Kohl nicht gegeben. Auch deshalb ist es ihm gelungen, die Wiedervereinigung europäisch so gut zu vermitteln und einzubetten. Sie wurde dadurch auch zu einer Dynamik für Gesamt-Europa, zu einer Dynamik bis hin zum Euro, von dem, das kann man nicht oft genug sagen, Deutschland besonders profitiert – der allerdings, auch das kann man nicht oft genug sagen, in den achtziger Jahren längst vorgedacht war. Der Euro war nicht der Preis für die Deutsche Einheit.

Für Helmut Kohls europäische Behutsamkeit, für sein Gespür für die anderen in Europa, gibt es ein gutes Beispiel aus eben dieser Zeit: Kohl war am 9. November 1989 auf einem Staatsbesuch in Warschau. Er hat seine Reise daraufhin unterbrochen, wohlgemerkt nicht abgebrochen, ist am 10. November nach Berlin gereist und dann am 11. November wieder zurück nach Polen. Das haben die Polen ihm nicht vergessen.

So groß Helmut Kohls Verdienste in der Deutschland-, Europa- und Außenpolitik sind – seine innen-, gesellschafts- und parteipolitischen Leistungen sind kaum geringer. Kohl war in den siebziger Jahren der Hoffnungsträger der Jungen in der Union. Er hatte keine Scheu vor starken Leuten um sich herum, viele hat er gefördert und auch entdeckt: Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Richard von Weizsäcker und eine ganze Reihe anderer, die die Partei seit den siebziger Jahren attraktiv gemacht haben. Kohl hat es geschafft, in seiner christdemokratischen Politik die gesellschaftlichen Umbrüche der sechziger Jahre weiter mitzutragen. Die Umwelt- und die Familienpolitik erfuhren mit seiner Kanzlerschaft einen Schub: 1986 wurde das Bundesumweltministerium geschaffen und das Familienministerium um die Frauenpolitik ergänzt. Im selben Jahr trat das Gesetz zur Anerkennung von Erziehungsleistungen in der Rentenversicherung in Kraft.

Helmut Kohls beginnende Kanzlerschaft bedeutete eine Wende zum Besseren in der Stimmung der Deutschen. Nach der Ölkrise 1973, der Erschütterung des Glaubens an die Steuerbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft, der beginnenden Sorge um die gefährdete Umwelt, RAF-Terrorismus und außenpolitischen Krisen wie dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 glaubten – wie Allensbach erfragte – nur noch 28 Prozent der Deutschen an den Fortschritt. 1972 waren es noch 60 Prozent gewesen. Bei der „geistig-moralischen Wende“ – oft falsch verstanden – ging es darum, Zuversicht und Vertrauen der Bürger in ihr Land zurückzugewinnen. Das ist gelungen. Kohls Politik brachte das Land wieder in sicherere Bahnen. Die stabilitäts- und wachstumsorientierte Finanz- und Wirtschaftspolitik seiner Regierung führte dazu, dass Deutschland in der Lage war, die Wiedervereinigung zu finanzieren. Die Staatsquote war 1989 auf rund 43 Prozent reduziert, die Neuverschuldung des Bundes auf den niedrigsten Stand seit 1974 zurückgeführt. Es bleibt eine Lehre, heute aktueller denn je: solide zu wirtschaften, damit man handlungsfähig ist, wenn die Aufgaben sich stellen.

Bis zuletzt war die Politik Helmut Kohls auf der Höhe der Zeit, ihrer Probleme und Herausforderungen. In die letzte Legislaturperiode seiner Kanzlerschaft fallen die Reformen auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesundheitspolitik und in der Rentenpolitik, die trotz der von Oskar Lafontaine organisierten Blockade im Bundesrat bereits Konsequenzen aus der demographischen Entwicklung zogen – und die Gerhard Schröder dann zurückgenommen hat, um manches später doch wieder einzuführen und mit der Agenda 2010 fortzuführen. Die Bundesrepublik hat mit ihren Kanzlern zumeist Glück gehabt. Manche mussten sich erst korrigieren, um bedeutend zu werden. Helmut Kohl war es vom Anfang bis zum Ende.

Stephan Eisel

Sein Kapital war seine Volksnähe 

Helmut Kohl ist wohl am besten durch das beschrieben, was er einmal über sich selbst sagte: „Ich gehöre nicht zu denen, die morgens den Finger nass machen, um zu sehen, woher der Wind weht, und sich dann möglichst windschnittig aufstellen.“ So haben ich ihn als Menschen erlebt und das war wohl das Geheimnis seines großen politischen Erfolgs.

Kennengelernt habe ich Helmut Kohl als er 1978 zu einer turbulenten Studentenveranstaltung an die Universität Marburg kam, wo sich jahrelang kein führender Politiker mehr hingetraut hatte. Kohl ließ sich nicht davon irritieren, dass ihn einigen hundert Studenten niederbrüllen wollten. Nach der Veranstaltung ging er zu unserer Überraschung mit in unsere Stamm-Pizzeria. Die Diskussion ging bis weit nach Mitternacht. Kohls persönliches Auftreten überzeugte mich: Er hörte zu, interessierte sich für unsere Meinung und nahm selbst kein Blatt vor den Mund. 

So habe ich das 1983 - 1992 auch als Mitarbeiter des Bundeskanzlers Helmut Kohl erlebt. Für ihn spielten die Stellung in der Hierarchie in der Beurteilung von Menschen keine große Rolle. Entscheidend war sein persönliches Vertrauen. Es zu gewinnen, war keine einfache Sache, aber dann konnte man sich auf seine Rückendeckung uneingeschränkt verlassen. Als die Deutsche Botschaft in London einmal wegen einiger Interviews über mich Beschwerde führte, wollte Kohl von mir nicht wissen, was ich wann wo gesagt habe, sondern beschied den Vertreter des Auswärtigen Amtes nur lapidar: „Sagen Sie denen in London: Eisel hat mein Vertrauen.“ 

Helmut Kohl war neugierig und liebte politische Debatten. Er legte großen Wert darauf, dass seine Mitarbeiter ihm gegenüber auch kritische Dinge ansprachen. Ich hatte nie den Eindruck, dass mir aus einem offenen Wort ihm gegenüber Nachteile entstehen könnten. Aber er ließ es auch selbst nie an Klarheit fehlen – zum Beispiel wenn er Vermerke mit seinem charakteristischen schwarzen Filzstiftes kommentierte. Da fand sich dann durchaus ein „Der spinnt ja wohl“, „So ein Blödsinn“ „Absoluter Quatsch!!“ auf amtlichen Papieren.

Gegenüber der amtlichen Bürokratie war Helmut Kohl besonders mißtrauisch. Als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz hat er einmal einen persönlichen Freund in der Staatskanzlei animiert, auf dem ordentlichen Dienstweg einen Vermerk auf den weg zu bringen, in dem der Satz versteckt war: „Der Chef der Staatskanzlei ist ein Esel und muss sofort entlassen werden.“ Dieser Vermerk wurde vom Referatsleiter, Unterabteilungsleiter, Abteilungsleiter bis hin zum Chef der Staatskanzlei abgezeichnet und so dem Ministerpräsidenten vorgelegt. Kohl rief dann alle zusammen und machte genüßlich klar, dass Vorlagen nicht nur abgezeichnet, sondern auch gelesen werden sollten.

Bei seinen zahlreichen Besuchen in Betrieben oder bei Verbänden war es Helmut Kohl war immer wichtig, nicht nur Funktionsträgern zusammen zu kommen. Ich erinnere mich gut daran, dass beispielsweise die Spitze des Deutschen Fußballbundes keineswegs begeistert war, wenn sich der Kanzler beim Mittagessen im Trainingslager nicht an den vorgesehenen Vorstandstisch setzte, sondern zu den Spielern. 

Helmut Kohls großes Kapital war immer seine Volksnähe und Verlässlichkeit. Da mochte es noch so viel Kritik in Einzelfragen geben, für die meisten Menschen war doch beruhigend, dass – wie es einer seiner Kritiker einmal formulierte – das rote Telefon auf seinem Nachttisch stand. Bei Kohl wusste man, woran man war. So wird er mir in Erinnerung bleiben.

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