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Stephan Eisel
Direktwahlen mit Legitimationsschatten
Geringe Beteiligung belegt klare Bürgerdistanz zu plebiszitären Verfahren
Die Demokratie des Grundgesetzes entfaltet sich als repräsentative Demokratie und hat sich so bewährt. Dennoch werden in den letzten Jahren plebiszitäre Verfahren ausgeweitet und sind inzwischen in allen Bundesländern etabliert. Aber die Beteiligung sowohl an plebiszitären Sachabstimmungen als auch an Direktwahlen liegt so niedrig, dass sich ernsthafte Legitimationsfragen stellen:
Bei landesweiten Volksentscheiden, die nicht mit allgemeinen Wahlen zusammenfielen, lag die Beteiligung seit 1991 bei durchschnittlich 36,8 Prozent und damit um fast 30 Prozent unter den vergleichbaren Landtagwahlen. Die Bilanz von Bürgerentscheiden auf kommunaler Ebene fällt ähnlich aus.
Zugleich sind auf kommunaler Ebene (mit Ausnahme der Stadtstaaten) überall Direktwahlen von Oberbürgermeistern und Bürgermeistern sowie fast überall auch von Landräten etabliert worden. Man sich versprach davon für die Kommunalpolitik eine mobilisierende Wirkung und größere Bürgernähe. Aber die Bürger zeigen diesem Angebot mit großer Mehrheit die kalte Schulter: An Direktwahlen beteiligen sich fast ausnahmslos deutlich weniger als die Hälfte der dazu berechtigten Bürger, wenn diese nicht mit allgemeinen Wahlen zusammenfallen.
144 der 196 zu Beginn des Jahres 2016 amtierenden Oberbürgermeister in kreisfreien Städten mit mehr als 35.000 Einwohnern wurden in solchen singulären Direktwahlen gewählt.[1] Das gilt auch für 145 der 250 deutschen Landräte.[2] Eine Analyse der Beteiligung dieser Direktwahlen, die nicht mit allgemeinen Wahlen zusammenfielen, offenbart erhebliche Legitimationsdefizite:
Bei einer durchschnittlichen Direktwahlbeteiligung von um die 35 Prozent muss man davon ausgehen, dass die Legitimation der Wahlsieger selten auf der Zustimmung von mehr als 20 Prozent der Wahlberechtigten basiert. Bei einer Wahlbeteiligung von unter 30 Prozent ist dieses Legitimationsdefizit besonders offenkundig.
Lediglich in Brandenburg gibt es im Wahlgesetz wenigstens für Landratswahlen eine Regelung für den Fall einer dramatisch niedrigen Beteiligung: Der Wahlsieger muss mindestens 15 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten erhalten haben, ansonsten fällt das Wahlrecht an den Kreistag zurück. Das war immerhin bei fünf der elf Direktwahlen in brandenburgischen Landkreisen der Fall.
Die Plebiszit-Lobby lehnt solche Quoren ab und hat wiederholt erfolgreich deren Absenkung durchgesetzt, wo sie existieren. Damit können Volks- bzw. Bürgerentscheide auch dann Beschlüsse gewählter Parlamente aushebeln, wenn sich daran weit weniger Bürger beteiligen als an den entsprechenden Wahlen. Zugleich stehen oft den Kommunalparlamenten Oberbürgermeister oder Landräte gegenüber, deren Direktwahl mit deutlich geringerer Wahlbeteiligung erfolgte.
Die Abstimmung mit den Füßen zeigt jedenfalls, dass die repräsentative Demokratie in Deutschland fester verankert als dies manche Theoriedebatte wahrnimmt. Dass die Bürger den Wahlen repräsentativer Parlamente so deutlich den Vorzug vor der Beteiligung an Plebisziten oder Direktwahlen geben, rechtfertigt sicherlich keine Ausweitung dieser Instrumente auf die Bundesebene.
Im Gegenteil wäre eine Debatte erforderlich, ob plebiszitäre Entscheidungsverfahren über Sach- und Personalfragen nicht in der Praxis längst gescheitert sind – zumindest wenn man die geringe Beteiligungsbereitschaft der Bürger ernst nimmt. Gerade weil sich die Plebiszit-Lobby diesem Realitätscheck gerne entziehen möchte, ist er dringend erforderlich.
[1] Lediglich in den Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg finden keine Direktwahlen statt.
[2] In den 45 Landkreisen von Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein werden Landräte nicht direkt gewählt.
[3] Landshut (64.000 Einw. / 50,7 Prozent) Memmingen (41.000 Einw. / 54,5 Prozent), Görlitz (53.000 Einw. / 52,9 Prozent), Hof (44.000 Einw. / 51,8 Prozent) und Tübingen (84.000 Einw. / 55 Prozent).
[4] Heidelberg (21,8), Reutlingen (23,8), Offenbach/Main (24,3), Duisburg (25,8), Essen (27,7), Mannheim (28,7), Halle (29,0), Mönchengladbach (29,6) Herne (29,9), Remscheid (30,2), Dortmund (30,9), Göttingen (31,2), Hagen (31,2), Moers (31,2), Recklinghausen (31,2), Bielefeld (31,3), Chemnitz (31,8), Lübeck (31,9), Bochum (32,9).
[5] Beide Landkreise liegen in Thüringen, nämlich der Landkreis Sonneberg und der Unstrut-Hainich-Kreis.
[6] Bei den größeren Städten handelt es sich um Kassel und Pforzheim, bei den weiteren Städten um Bayreuth, Brandenburg, Gera, Görlitz, Memmingen, Neubrandenburg, Norderstedt, Stralsund, Suhl und Villingen-Schwenningen.
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