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DAS INTERNET VERÄNDERT SPRACHE UND

Kommunikationskultur. Dabei sind ambivalente Effekte zu beobachten. Ich habe mich damit in einem Aufsatz unter der Überschrift "Mit Sendungsbewusstsein ins Unverbindliche surfen" befasst. Er erschien zum 70. Geburtstag des Politikwissenschaftlers Wolfgang Bergsdorf, der das Forschungsfeld "Herrschaft und Sprache" erschlossen hat.
DAS INTERNET VERÄNDERT SPRACHE UND

Der folgende Text ist in der Monatszeitschrift "DIE POLITISCHE MEINUNG" im November 2011 erschienen. Sie können ihn hier ausdrucken

 

Stephan Eisel 

Mit Sendungsbewußtsein ins Unverbindliche surfen

Herrschaft und Sprache im Internet 

Als sich Wolfgang Bergsdorf 1982 mit seiner bis heute grundlegenden Studie  „Herrschaft und Sprache: Zur politische Terminologie der Bundesrepublik Deutschland“ habilitierte, war vom Internet noch keine Rede. Aber nach dem Siegeszug des gedruckten Wortes mit dem Buchdruck und der für nicht möglich gehaltene Ausweitung der Verbreitung des gesprochenen Wortes durch die elektronischen Massenmedien bietet das Internet als Medium neuer Qualität der Sprache einen neuen Herrschaftsraum. 

Die Wirkmächtigkeit des Internets wird gespeist durch die Möglichkeit der kommunikativen Interaktion über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg. Inzwischen beträgt das tägliche (!) Verkehrsaufkommen auf den Datenautobahnen über 415 Petabyte. Das entspricht etwa der tausendfachen Datenmenge aller Bücher, die jemals in jeder Sprache auf der Welt geschrieben wurden. Mit und im Internet wird jeden Tag mehr gesprochen, geschrieben, gesehen und gehört als in jedem anderen Medium zuvor. Dabei verändert sich Sprache im Internet und das Internet verändert die Sprache auch außerhalb des Netzes. 

Dreifache digitale Spaltung

Allerdings hat das Internet als Kommunikationsraum im Alltag der Menschen noch lange nicht die Bedeutung von Radio und Fernsehen erreicht. Allzu leicht wird die dreifache digitale Spaltung Gesellschaft übersehen:

Erstens ist ein Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung über vierzehn Jahre mangels Zugang generell vom Internet ausgeschlossen.

Zweitens nutzt ein Drittel derer, die einen Internetzugang haben, die bestehende Zugangsmöglichkeit nur selten. Insgesamt kann nur etwa die Hälfte der deutschsprachigen Bevölkerung über vierzehn Jahre als regelmäßige Internetnutzer gelten.

Drittens beschränken sich zwei Drittel der regelmäßigen Nutzer auf wenige, vor allem passiv-konsumierende Nutzungsarten und nehmen die vielfältigen interaktiven Möglichkeiten des Mediums praktisch nicht in Anspruch. 

Allenfalls ein Fünftel der in Deutschland lebenden deutschsprachigen Menschen über vierzehn Jahre ist also internetaffin in dem Sinne, dass sie die Möglichkeiten des Internets nicht nur als Abrufmedium, sondern als Kommunikationsplattform nutzen. Es wäre ein großer Fehler von einer Welt auszugehen, in der nur existiert, was digital existiert. Aber im Netz haben sich Kommunikationsformen etabliert, die von den regelmäßigen Internetnutzern auch in die Offline-Welt getragen werden. 

Kommunikative Ambivalenzen

Dabei sind sehr widersprüchliche Phänomene zu beobachten:

Einerseits verbreitet sich beispielsweise Englisch über das Internet noch schneller als lingua franca. Andererseits macht es der Cyberspace den Menschen einfacher als je zuvor, in der Fremde zu leben und zugleich im Netz in der geistigen Heimat ihrer Muttersprache zu bleiben. 

Einerseits gilt im Internet in nie gekanntem Ausmaß der Satz „Wer schreibt, der bleibt“, denn das Netz vergisst nichts. Andererseits haben die enormen Speicherkapizitäten des Internets eine große Unübersichtlichkeit zur Folge, in der vieles nur zufällig wiedergefunden wird. 

Einerseits sind die Kommunikationsmöglichkeiten im Cyberspace fast grenzenlos. Andererseits gibt es deswegen nicht zwangsläufig mehr zu sagen – wie es im legendäre Dialog zwischen dem Pionier der drahtlosen Telekommunikation, dem italienischen Physiker Guglielmo Marconi (1874–1937), und seinem Mitarbeiter so treffend zum Ausdruck kommt. Als die erste Verbindung mit der neuen Technologie zwischen New York und Florida zustande kam, rief der Mitarbeiter begeistert  „Marconi, Marconi, we can talk to Florida!“und Marconi antwortete trocken: „That’s wonderful, but do we have anything to say to Florida?“ 

Einerseits eröffnet das Internet mit seiner vermeintlichen Hierarchiefreiheit ein offenes Kommunikationsforum für jedermann, andererseits bleibt Aufmerksamkeit auch im Netz ein knappes Gut: Zwar kann jeder dort alles schreiben, aber deshalb wird keineswegs alles gelesen und wahrgenommen. 

Dominanz des Nebensächlichen

Das Online-Lexikon Wikipedia ist dafür ein gutes Beispiel. Ende März 2011 umfasste Wikipedia über achtzehn Millionen Artikel in mehr als 270 Sprachen. Die deutschsprachige Wikipedia-Version beinhaltet ca. 1,2 Millionen Artikel. Sie ist damit etwa achtzehn Mal umfangreicher als der Große Brockhaus. Täglich kommen weltweit ca. 8000 und in Deutschland etwa 500 Artikel dazu.

Die unbegrenzte Speichermöglichkeit im Internet entlastet Wikipedia dabei von der Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, die der Buchdruck durch die technische und finanzielle Begrenzung der Seitenzahl erzwingt. So sind in der Online-Enzyklopädie auch völlig unbedeutende Nebensächlichkeiten in großer Zahl zu finden sind. 

Auch Unterscheidung zwischen falsch und richtig, wahr und unwahr wird dort immer schwieriger. So weiß man bei einem Wikipedia-Artikel nie, ob das gerade Lesbare Unsinn ist und in einigen Sekunden, Minuten oder Stunden wieder gelöscht oder korrigiert wird: Erst nach einigen Monaten fiel beispielsweise im November 2005 auf, dass die deutschsprachigen Philosophie-Artikel auf Wikipedia fast alle mit Artikeln aus älteren marxistisch-leninistischen DDR-Lexika gefüllt worden waren. 2007 deckte das Magazin The New Yorker auf, dass ein 24-Jähriger mit der falschen Identität und Autorität eines Professorentitels tausende von Artikeln bei Wikipedia redigiert hatte. Die Ernsthaftigkeit der Übernahme von Verantwortung für eigenes Schreiben im Internet wird allzu leicht dem spielerischen Anything goes der Netzwelt geopfert. 

Selektive Elitentransparenz

Das Netz ermöglicht zwar einen bisher ungekannten vielfältigen Sprachchor, aber die Transparenz steigt dadurch kaum. Wie schnell das Gegenteil passiert, zeigt das Beispiel der Piratenpartei. Sie fordert zwar  von Staat und Politik völlige Transparenz, aber ihre eigene Transparenzwirklichkeit folgt dem Leitsatz: Nicht alles und nicht für alle. Die Piraten praktizieren dabei – durchaus typisch für die Netz-Community – wie selbstverständlich drei grundlegende Transparenzeinschränkungen :

Erstens gilt das Internetmonopol. Dem Transparenzgebot ist demnach Genüge getan, wenn sich etwas im Netz zu finden. Wer keinen Internetzugang hat, bleibt außen vor: in Deutschland sind das immerhin fast 30 Prozent der Bevölkerung. 

Nimmt man zweitens das Internetangebot der Piratenpartei als Maßstab, so ist das Hauptkennzeichen die Unübersichtlichkeit - bekanntlich das Gegenteil von Transparenz. Im Gewirr zwischen Homepages, wikis, liquid feedback, piratenpad und vielem mehr findet der Nutzer vieles – aber nur wenn er Zeit und überdurchschnittliche Internetkenntnisse hat. 

Drittens hat sich im Netz eine Expertensprache aus Insiderkürzeln und Fachbegriffen verbreitet, die dem Normalbürger kaum noch zugänglich ist

Dass so eine selektiver Eliten-Transparenz entsteht, wird in der sich selbst bespiegelnden und von sich überzeugten Netz-Community praktisch nicht wahrgenommen.

Sprunghafte Oberflächlichkeit

Scheindemokratisch ist auch die „De-hierarchisierung“ von geschriebenen Texten durch die Verlinkungsmöglichkeiten im sog. „Hypertext“. Der klassische lineare Textaufbau strukturiert Texte und unterscheidet zwischen Text und in Fußnoten verbannte ergänzende Erläuterungen. Im Hypertext werden Fußnoten durch permanente gleichrangige Verweisungen ersetzt. Der Leser muss nicht mehr dem Pfad des Autors folgen, sondern kann jederzeit über Verlinkungen ausweichen oder abgeworben werden.

Zugrunde liegt die Annahme der Informationsdurchdringung durch Assoziation. Das Navigieren im (Hyper)text verdrängt das Lesen des Textes. Die seit dem Buchdruck eingeübte lineare Informationsaufnahme wird von einer gleichzeitigen, kurzatmigen und zusammenhanglosen Informationsflut verdrängt. 

So wird das Denken sprunghafter und oberflächlicher. Das assoziative Ausprobieren wird zum Grundprinzip. Führt mich dieser Link nicht weiter, probiere ich eben den nächsten aus. Zwar gehört „trial and error“ durchaus zum Repertoire des Erkenntnisgewinns, aber Hypertext-Verlinkungen vermitteln das Gespür für die Grenzen des Versuchswesens nicht, weil sie Grundlegendes mit Nebensächlichem gleichsetzen. Die Fähigkeit zur Fokussierung wird durch eine „konstante Zerstreutheit“ verdrängt wie es Nicholas Carr in seinem Buch über die Veränderung des Denkens durch das Internet beschreibt: „Einst war ich Sporttaucher im Meer der Worte. Heute rase ich über die Oberfläche wie ein Typ auf einem Jet-Ski.“

Für den Surfer an der Oberfläche verschwimmt in undurchschaubaren Gewirr der Hyperlinks auch die Grenze zwischen Autor und Rezipient. Die Verantwortung für einen Text ist immer seltener zuzuordnen. Auch die populäre und so vieles erleichternde Methode „Copy&Paste“ (Kopieren und Einfügen) ist weit mehr als eine Arbeitshilfe beim Erstellen von Texten. Sie lässt sozusagen alles für jeden verfügbar werden. Die technischen Möglichkeiten der digitalen Welt fördern die Annahme, im Internet gehöre alles jedem. So verwundert es nicht, dass die auch Piratenpartei das Konzept des „geistigen Eigentums“ zurückweist. 

Selbstbespieglung der großen Zahl

Im Internetkonglomerat aus Informationsfülle, komplexer Verdichtung verschiedenster Ebenen und Kurzatmigkeit wächst die Sehnsucht nach Hilfsmitteln, die den einfachen Weg weisen. Hier liegt die Ursache des überwältigenden Erfolgs von Suchmaschinen und die Abhängigkeit davon. An der Spitze steht Google. Der Name verweist als Wortspiel mit dem Begriff „googol“ für die Zahl „Zehn hoch Hundert“ auf das Ziel, die unerschöpfliche Informationsfülle des Netzes zu strukturieren. 

Suchmaschinen präsentieren sich dem Nutzer sich als scheinbar neutrale Haltepunkt in der unüberschaubaren Komplexität des Netzes. Tatsächlich spiegeln sie aber nur das gespeicherte Nutzerverhalten. Ursache dafür ist die Struktur am Prinzip der großen Zahl ausgerichteter mathematischer Algorithmen, die die entsprechenden Programmen ausmachen und als „Schwarm-Intelligenz“ überhöht werden. Zugrunde liegt die Behauptung, dass etwas umso zutreffender, wichtiger und richtiger sei, je mehr Menschen sich dafür entscheiden. Die in der Demokratietheorie und -geschichte längst widerlegte Gleichung „Mehrheit=Wahrheit“, auf die auch totalitäre Ideologien mit ihrer Strategie der Massenmobilisierung setzen, wird im Internet mit dem Konzept der „Schwarm-Intelligenz“ publikumswirksam wiederbelebt. Rousseaus volonté générale lässt grüßen. 

Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass das Prinzip der großen Zahl strukturell die Bandbreite der Vielfalt einengt: Was bei Google wegen mangelnder Nutzerzahlen nicht gefunden wird, existiert für viele Nutzer nicht, mag es noch so bedeutend sein. 

Fragmentierte Echogesellschaften

Lag der ursprüngliche Reiz des Internets in der Einladung zur Reise in das bisher Unbekannte, hat sich inzwischen die Bestätigung des Vertrauten vielfach als Grundprinzip durchgesetzt. Zwar schafft das Internet Gemeinschaft über Grenzen hinweg, indem es Menschen miteinander verbindet, die wegen großer Entfernungen nur über das Netz Kontakt halten können oder sich erst im Internet kennenlernen. Diese virtuelle Weltgemeinschaft hat das historische Beziehungsmonopol lokaler Gemeinschaften endgültig durchbrochen. 

Aber im Internet muss für diese Kontaktaufnahme das sichere Zuhause nicht verlassen werden und die Kommunikation wird meist genutzt, nur Vertrautem zu begegnen. Das unbegrenzte Informations- und Meinungsangebot im Internet steht in einem seltsamen Widerspruch zur Tendenz vieler Internetnutzer, sich in die Gruppe sich selbst bestätigender Gleichgesinnter zurückzuziehen. 

Als fragmentierte Echogesellschaft bildet das Internet nicht den einmal erhofften gemeinsamen Kommunikationsraum, sondern zerfällt in viele Teilöffentlichkeiten. Daraus ergibt sich nicht nur die Gefahr der Schwächung der Meinungsvielfalt, die des gemeinsamen Raumes für das Unterschiedliche und Gegensätzliche bedarf, damit es sich wechselseitig befruchtet. Die Parallelexistenz vieler unterschiedlicher, sich eher radikalisierender Gruppen ist auch eine Bedrohung für das Grundprinzip freiheitlicher Demokratie: e pluribus unum. 

Wo Gleichgesinnte abgeschottet von Andersdenkenden überwiegend einander begegnen, gedeiht leicht Radikalität, Extremismus und Ideologie. Oft gilt im harten Kern der Netzgemeinde das mit hoher Intoleranz verfolgte Motto: Geduldet wird nur, wer meiner Meinung ist. Wer mit Repräsentanten der sich gerne als Spaßpartei gebärdenden Piratenpartei diskutiert, wird schnell auf diesen ideologischen Kern stoßen, wenn das Internet selbst zum Thema wird. 

Schrille Kommunikation

Entgegen der gerne propagierten Selbstwahrnehmung animiert das Internet mindestens ebenso sehr zum Tunnelblick im Kreise Gleichgesinnter wie es Unterschiedliches zusammenführt und Vielfalt fördert. Dabei kommt es der Bequemlichkeit der meisten Menschen entgegen, wenn sie vor allem den Haltungen begegnen, die sie selbst einnehmen, und die ihr Weltbild nicht in Frage stellen.

In der Wissenschaft herrscht inzwischen längst die Meinung vor, dass die Internetöffentlichkeit keineswegs eine reflektierende oder besser zu abwägenden Urteilen befähigte Öffentlichkeit ist. Im Gegenteil neigt die Kommunikation im Internet dazu, Konfliktlinien eher zu schärfen. Wörter werden als Waffen neu aufgerüstet. 

Fast jedes Chat-Forum zeigt, dass vor allem im politische Dialog eine besorgniserregende Radikalisierung der Sprache, die sich nicht selten zu ausgesprochener Aggression steigert. Es ist auch kein Zufall, dass das Problem des Mobbing im Internet besonders virulent ist. Das viel kritisierte „Stammtischniveau“ wird im Internet ohne Hemmungen unterboten, weil im Unterschied zum Stammtisch in der entpersonalisierten Netzwelt die soziale Kontrolle fehlt – eben jener Stammtischbruder, der einem, der auch verbal über die Stränge schlägt, begütigend zuruft: „Jetzt lass mal gut sein“. 

Die Relativierung und Einordnung der eigenen Weltsicht ist im Internet schwerer, weil es leichter ist, dem Andersartigen zu entfliehen und sich vor neuen Gedanken abzuschotten. Hybris, Sendungsbewusstsein und ideologische Unbeirrtheit sind im Cyberspace ebenso verbreitet wie flüchtige Oberflächlichkeit und spielerische Unverbindlichkeit. Die Mitte hat es dort schwer.

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