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WIKIPEDIA VERBIRGT HINTER EINEM

niedrigschwelligen Zugang eine intransparente Autorenhierarchie. In Deutschland bestimmen nur 249 Administratoren, was letzlich veröffentlicht wird. Wer Wikipedia nutzt, sollte dies mit solider Quellenkritik tun und dem dort Angebotenen keineswegs blind vertrauen.
WIKIPEDIA  VERBIRGT HINTER EINEM

 

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Stephan Eisel

Die Wikipedia-Versuchung

Niedrigschwelligkeit verbirgt Einfluss intransparenter Autorenhierarchie 

„Was kann ich wissen?“ fragte Immanuel Kant 1781 in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ und meinte damit nicht die Erweiterung der Informationsfülle, sondern die Kriterien menschlicher Erkenntnis. 

Im Internet verdrängt eine scheinbar unbegrenzte Informationsfülle solche qualitativen Überlegungen. In merkwürdigem Kontrast zu dieser Informationsfülle stehen zugleich die eindimensionalen Zugangsportale: Als bewusst niedrigschwellige, einfach zu nutzende Plattformen haben die Suchmaschine Google und die Online-Enzyklopädie Wikipedia prak­tisch einen Monopolstatus erreicht und verführen schon mangels Konkurrenz zur kritiklosen Nutzung. 

Dies zeigt sich beispielhaft beim Umgang gerade junger Internetnutzer mit der Online-En­zyklopädie Wikipedia. Sie gehört zu den zehn am häufigsten besuchten Websites und hat gleichsam ein enzyklopädisches Online-Monopol erreicht, ohne in ihrer Wissensautorität hinterfragt zu werden. 95 Prozent der 14- bis 19-jährigen deutschsprachigen Internetnutzer greifen darauf zurück. 

Damit ist Wikipedia zwar in der Nutzung ein beeindruckendes Massenphänomen, aber nicht – wie eigentlich von den Initiatoren angestrebt – in der Erstellung. Das belegen auch die of­fiziellen Wikipedia-Statistiken (hier abgerufen im Februar 2015), die allerdings nur mit eini­ger Mühe auf der Homepage zu finden sind. 

Die deutschsprachige Wikipedia wird dominiert von ca. hundert Autoren mit monatlich je­weils mehr als 1.000 Einträgen (Neueinträge/Veränderungen/Kommentare/Löschungen). Selbst wenn man den Kreis etwas weiter zieht (100 Edits pro Monat), kommt man auf nur ca. 5.000 nennenswert aktive Autoren der 1,5 Mio. registrierten ‚Wikipedianer’. 

Häufige Aktivität, deren qualitatives Niveau ungeprüft bleibt, bildet die Grundlage des Auf­stiegs in der Wikipedia-Hierarchie vom beitragenden Nutzer zum dominierenden und kon­trollierenden Administrator. Der aktivste Administrator in der deutschsprachigen Wikipedia (‚Aka’) kommt seit zehn Jahren auf einen Durchschnitt von täglich (!) fast 200 Edits. Allein dieser eine Autor hat bereits fast 800.000 mal Beiträge eingestellt, verändert, kommentiert oder gelöscht. Im Februar 2015 waren gerade einmal 249 deutschsprachige Wikipedia-Nut­zer als Administratoren mit der Macht ausgestattet, Artikel auch gegen den Willen ihrer Au­toren dauerhaft zu löschen oder zu verändern.

Wikipedia ist also mitnichten jenes offene Wissensportal, als das es gerne gelten möchte, sondern ist charakterisiert durch das starke Machtgefälle zwischen mächtigen Administrato­ren einerseits und Nutzern sowie gelegentlichen Autoren andererseits. Gerade in der Struk­tur der deutschsprachigen Wikipedia zeigen sich Schließungs- bzw. Verfestigungstendenzen fast sektenartigen Charakters. 

Für neue Editoren ist es äußerst schwierig, ins Zentrum des Netzwerkes vorzudringen. Bei Wikipedia führt nicht die geprüfte Kompetenz, sondern nur hohe Aktivität zum mächtigeren Status: Wikipedia ist keine Demokratie der Geistreichen, sondern eine Diktatur der Zeitrei­chen. 

Die Manipulationsgefahr durch eine kleine Autoren- und Administratorenclique ist umso größer, je politischer die Beiträge sind oder empfunden werden. Unter tatsächlicher oder falscher Identität toben bei Wikipedia auch ständig politische Meinungsschlachten. Bis hin zur bewussten Fehlinformation werden Artikel je nach politischem Gutdünken manipuliert und zensiert. Auch wer mit einer ideologischen Agenda aktiv ist, erhöht damit seine Kon­troll- und Korrekturrechte bei den Beiträgen anderer Autoren. 

Wo einerseits der Eindruck unbegrenzter Informationsfülle erweckt wird, herrscht tatsäch­lich intransparente Selektion und Zensur durch einige wenige. Anfang 2015 umfasste die deutschsprachige Wikipedia knapp 1,8 Mio. Artikel. Die praktisch unbegrenzte Speicher­möglichkeit im Internet entlastet Wikipedia dabei aber von der Einordnung und Unterschei­dung zwischen wichtig und unwichtig, wie sie beispielsweise der Buchdruck erzwingt. So finden sich bei Wikipedia zufällig und ohne Einordnung Banalitäten neben Gewichtigem, Seriöses neben Unseriösem, längst Überholtes neben Hochaktuellem. 

Zudem weiß man bei einem Wikipedia-Artikel nie, ob der gerade lesbare Text nicht in eini­gen Sekunden, Minuten oder Stunden korrigiert sein wird. Wikipedia bietet – je politischer der Inhalt ist, umso mehr – viel mehr den Informations- und Meinungsstand des flüchtigen Augenblicks einiger weniger als nachhaltiges Wissen. 

Die grundlegenden Schwächen des Wikipedia-Prinzips werden von der leichten Nutzbarkeit dieses Online-Lexikons völlig überlagert. Tatsächlich steht Wikipedia für die Volatilität, also die Schwankungsbreite und Relativität von Wissen und Information, vermittelt aber den Eindruck solider Zuverlässigkeit. Im Alltag ist Wikipedia längst dem mühsamen und als altmodisch geltenden Maßstab der Quellenkritik entzogen. 

Wo die Online-Enzyklopädie sinnvollerweise allenfalls Einstieg in eine Themenbefassung sein kann, gilt sie gerade bei Jugendlichen viel zu oft als letztes Wort. Der Wikipedia-Erfolg beruht auf der Annahme, die unüberschaubare Informationsfülle im Internet werde hier „ob­jektiv“ erschlossen und strukturiert. 

Dieser Wikipedia-Versuchung gilt zu widerstehen, dann in Wahrheit prägt die Online-Enzy­klopädie durch intransparente Selektion unser Wirklichkeitsbild. Eine Informationsgesell­schaft ist eben noch keine informierte Gesellschaft. Die Verantwortung des Einzelnen lässt sich nicht automatisieren.

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