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VOR 26 JAHREN HAT DIE DDR-VOLKSKAMMER

den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Ich habe dann als stv. Leiter des Kanzlerbüros unmittelbar erlebt, auf welche abenteuerliche Weise dieser Beitrittsbeschluss den Weg nach Bonn fand. Die Geschichte illustriert lebendig die damalige Situation.

Am 23. August 1990 beschloss die freigewählte Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Einzelheiten können Sie nachlesen in dem Aufsatz

Stephan Eisel, Der Beitrittsbeschluß der DDR-Volkskammer (Historische Politische Mitteilungen (HPM) Konrad-Adenauer-Stiftung, Herbst 2005

Den vollständigen Text können Sie hier ausdrucken.

Hier eine Zusammenfassung:

"Schon in den Koalitionsvereinbarungen zur Regierungsbildung der demokratischen Parteien ohne die SED/PDS  vom 12. April 1990 war der Beitritt zur Bundesrepublik nach Art. 23 des Grundgesetzes festgelegt worden. Dazu bekannte sich Ministerpräsident de Maizière auch in seiner Regierungserklärung am 19. April 1990.

In der Volkskammer wurden die Diskussionen um den Beitrittstermin in den folgenden Wochen immer hektischer. Vor diesem Hintergrund beantragte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière am 22. August 1990 gegen 19.00 Uhr eine sofortige Sondersitzung der Volkskammer zur Beschlussfassung über den Termin der deutschen Einheit. Die Sondersitzung der Volkskammer begann noch am gleichen Abend um 21.10 Uhr und nahm einen ziemlich chaotischen Verlauf. Es war 02.30 Uhr am frühen Morgen des 23. August, als die Sitzungspräsidentin Sabine Bergmann-Pohl das Abstimmungsergebnis verkündete. Zur Abstimmung stand der Beschlusstext:

 „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990.“

Im Protokoll der Volkskammersitzung heißt es dann:

 „Abgegeben wurden 363 Stimmen. Davon ist keine ungültige Stimme abgegeben worden. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt. (Starker Beifall der CDU/DA, DSU, FDP, teilweise der SPD, die Abgeordneten der genannten Fraktionen erheben sich von den Plätzen). Mit Nein haben 62 Abgeordnete gestimmt, und sieben Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten.“

Anschließend rief in einer persönlichen Erklärung „unter jubelndem Beifall bei der CDU/DA, der DSU und teilweise der SPD“ der PDS-Sprecher Gregor Gysi aus:

 „Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen.“

Noch in der Nacht – gegen 2.45 Uhr – wurde der Bundeskanzler vom Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters, telefonisch über den Beitrittsbeschluss informiert.

Doch wie gelangte dieser Beitrittsbeschluss der DDR offiziell zur Kenntnis der Bundesrepublik Deutschland? Der Ablauf beschreibt anschaulich, wie vieles im historischen Prozess der Vereinigung zwischen die „Mühlsteine“ der Unsicherheit über den richtigen Ablauf und des Alltagstrotts der Bürokratie geriet.

Frau Bergmann-Pohl war als Präsidentin der Volkskammer zugleich amtierendes Staatsoberhaupt der DDR. Ihr oblag es, den Beschluss der Bundesrepublik Deutschland offiziell zur Kenntnis zu bringen. Sie wählte dafür parallel drei Adressaten: Bundespräsident Richard von Weizsäcker, die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth und Bundeskanzler Helmut Kohl Alle drei Schreiben sind mit „Berlin, 25. August 1990“ datiert.

Der Beschusstext als offizielles Dokument lag den Schreiben von Frau Bergmann-Pohl auf einem auf DINA4-gefalteten DINA3- Büttenpapierbogen bei. Bemerkenswert ist, dass die Briefe auf einen Samstag (25. August 1990) datiert sind – auch im historischen Prozess der Vereinigung auf westdeutscher Seite keineswegs ein Arbeitstag, an dem die Büros besetzt gewesen wären. Das Büro des Volkskammerpräsidenten in Ost-Berlin freilich war offenkundig funktionsfähig.

Das Schreiben an den Bundeskanzler gab das Büro der Volkskammerpräsidenten in die normale Post nach Bonn „An den Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzleramt, D-5300 Bonn 1“. Am 28. August 1989 traf der Brief mit Anlage in der Poststelle des Kanzleramtes ein und wurde dort – da an den Bundeskanzler adressiert – aussortiert und direkt – also nicht über das Kanzlerbüro – an das Vorzimmer des Bundeskanzlers weitergegeben. Dort wurde erhielt der Brief routinemäßig den grünen Eingangsstempel „Vorzimmer Bundeskanzler – 28. August 1990“. Allerdings war die Bedeutung des Anschreibens offenbar nicht aufgefallen, sondern das Schreiben wurde wiederum routinemäßig – ohne dass es dem Bundeskanzler vorgelegt worden war – direkt dem Chef des Bundeskanzleramtes weitergeleitet. Die Anlage blieb augenscheinlich unbeachtet. Offenbar in einem größeren Poststapel zeichnete Kanzleramtschef Rudolf Seiters mit rotem Stift das Anschreiben ab. Sein persönlicher Referent, Axel Hartmann, versah es mit blauem Stift mit der Bemerkung „1) H.LKB 2) H.AL3 zwV Ha“. Mit LKB war der Leiter des Kanzlerbüros gemeint, mit AL3 der Leiter der Abteilung 3 im Kanzleramt, i der sich auch das Referat „Verfassungsrecht“ befand.

Im Bundeskanzleramt gab es – dem Kanzlerbüro zugeordnet – die sog. „Geschäftsstelle der Leitung“ (GdL), in der die Vorgänge des Bundeskanzlers bzw. des Chefs des Kanzleramtes registriert wurden, bevor sie in die Abteilungen des Hauses gingen. Erst an dieser Stelle fiel einem Sachbearbeiter die Bedeutung des Schreibens von Frau Bergmann-Pohl auf und er informierte mich als stv. Leiter des Kanzlerbüros. So hielt ich das historische Schreiben des amtierenden Staatsoberhaupts der DDR mit der offiziellen Mitteilung über den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland in den Händen. Es war auf dem Weg zu einem Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt mit der korrekten behördendeutschen Anweisung „zur weiteren Verwendung“ (zwV).

Ich nahm den Vorgang an mich und entschied, das mit den beschriebenen bürokratischen Bemerkungen versehene Dokument nicht dem Bundeskanzler vorzulegen. Dessen Begeisterung über den wenig sensiblen Umgang mit dem historischen Dokument hätte sich sehr in Grenzen gehalten.

In dieser Situation wandte ich mich an Thomas de Maizière, einen alten Bekannten aus gemeinsamen RCDS-Tagen. Er half 1990 beim Aufbau des Amtes des Ministerpräsidenten der letzten DDR-Regierung, Lothar de Maizière, seines Vetters. Ich schilderte Thomas de Maizière die Situation und bat ihn, bei Frau Bergmann-Pohl eine Zweitausfertigung des Briefes und der Anlage zu erbitten. Diese Zweitausfertigung wurde von Frau Bergmann-Pohl unterschrieben und mit einem Boten per Linienflug von Berlin zum Köln/Bonner Flughafen gebracht, wo ihn ein Mitarbeiter des Kanzlerbüros entgegennahm und mir im Kanzleramt aushändigte.

Dieses Dokument wurde von mir am 29. oder 30. August dem Bundeskanzler vorgelegt.

Ich erinnere mich nicht mehr, was ich mit dem Bundeskanzler über den Verbleib des Originals – also de facto die Zweitausfertigung – des Beitrittsbeschlusses besprochen habe. Der Verbleib ist auch heute nicht mehr zu klären. Es befindet sich jedenfalls weder im Bundesarchiv, noch im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch im Deutschen Historischen Museum. Vorhanden ist freilich das an den Bundeskanzler übersandte Originaldokument, also die Erstausfertigung mit den beschriebenen Stempeln und Bemerkungen. Ich habe es zum 15. Jahrestag des Beitrittsbeschlusses am 23. April 2005 dem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland übergeben.

Der gesamte Vorgang illustriert auf anschauliche Weise, wie die Wiedervereinigung in ihrer historischen Einmaligkeit im Ablauf alltäglicher Routine behandelt wurde. Ein Muster für geordnete Abläufe lag für den einmaligen und unvorhergesehenen Fall der Wiedervereinigung nicht vor."

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